Prinzessin Rauschkind
von Manfred Wieninger
204 Seiten © 2010 HAYMON Verlag Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at www.manfredwieninger.com ISBN 978-3-85218-626-9
Was man im Leben alles verpasst hat, erfährt man erst sehr spät oder gar nicht. Ich empfinde es deshalb als ein Glück, den sechsten Fall des Harlander "Diskont-Detektivs" in Händen zu halten. Ich wage nach der Lektüre kaum zu ermessen, was ich in den ersten fünf Bänden wohl alles verpasst haben mag. Doch immerhin ist ja genug Zeit, dies gelegentlich herauszufinden!
Gleichzeitig begegnet mir mit diesem Buch ein Novum. Das nie Dagewesene begründet sich dahingehend, als ich mich mit der Beendigung der Lektüre keinesfalls zufrieden geben konnte. Nach der Schlusspointe bin ich regelrecht aus dem ebenso niederösterreichischen wie eingemeindeten Stadtteil von St. Pölten herausgefallen. Unsanft und unvorbereitet, denn einmal Harland hin und zurück - das war mir zu wenig, weshalb ich mich geradezu genötigt sah, mir diese wundersame Geschichte stante pede noch einmal zu Gemüte zu führen, wobei ich zu vermuten wage, dass auch dieser weitere Lesedurchgang womöglich nicht der letzte sein wird!
Und wenn ich mich schon in absoluten Neuheiten bewege, soll es auch dabei bleiben. Die nächste wird sich jedoch als eine Unterlassung gestalten, da ich gar nicht mal so unlängst eine Autorenschelte einstecken durfte - der liebenswürdigen Art zwar, dennoch mit deutlichem Fingerzeig. Sie war durchaus berechtigt, denn sämtliche vorhandenen Gäule gingen mit mir durch und ohne es zu bemerken, verriet ich von der Handlung ein wenig zu viel. Fast sogar ein wenig viel zu viel. Dies soll mir jetzt mit Prinzessin Rauschkind insofern nicht passieren, als ich nunmehr von der Handlung absolut gar nichts verraten werde. Der Text auf der Klappe reicht doch völlig und die Damen und Herren Kollegen der schreibenden Zunft haben dem Werke bereits dementsprechend entsprochen sowie würdige Referenz erwiesen.
Vielleicht möge dem geneigten Leser eine grobe Skizzierung des uneingeschränkten Hauptdarstellers genügen. Marek Miert - der im weitesten Sinne eine Seelenverwandtschaft mit der Figur des "Lieutenant Columbo" aus der unvergleichlichen amerikanischen Krimiserie teilen könnte (wobei man in Harland keinen alten Volvo, sondern einen ebenso maroden Ford Granada fährt) - wurde von seinem Vorgesetzten Oberleutnant Gabloner dereinst auf unerfreuliche Weise - mittels einem auf Nichtigkeiten beruhenden Disziplinarverfahren - aus dem Polizeidienst gemobbt. Fortan schlug sich der Gerechtigkeitsfanatiker auf eigene Faust durch, stets am Abgrund der Gesellschaft balancierend, sozusagen am Tellerrand der bewohnbaren Zivilisation, dort wo notorische Verlierer und psychopathische Abziehbilder der menschlichen Rasse ihr Dasein fristen.
Desillusioniert lebt er alleine und als letzter Mieter in einer vierstöckigen Bruchbude aus der Gründerzeit, dem Totalabriss geweiht, mit brüchig gewordenem Jugendstil-Verputz, zwischen einer verlassenen Grillstube und dem Gebäude einer ehemaligen Peepshow. Liebe, so meint er, "war sicher mehr als Reibung, aber vielleicht alles in allem doch nur Selbstbetrug". Die einzige Freiheit scheint ihm immerhin die "Freiheit des Konsums" zu sein. Auch von seiner Sucht erzählt er. So nebenbei. Es war die Gerechtigkeit, doch das wäre lange her gewesen.
Miert hat keine Familie, sein soziales Umfeld besteht aus Gaunern und Klienten, wobei sich die Unterschiede hier recht diffus gestalten, ist und isst gerne allein, weil er nichts von einem Cordon bleu oder gar einer Marillenschnitte abgeben muss, ist glücklich, dass er nicht sechs oder sieben Prozent seines Lebens in "Fetzengeschäften vor Umkleidekabinen" verbringen muss, hat nichts zu lachen, außer über sich selbst, sieht das Autofahren als einzigen Bereich im gesellschaftlichen Leben, in welchem sich der Mann noch als solcher austoben kann, und wenn ihn eines Tages die Alzheimerkrankheit heimsuchen sollte, möchte er den Gabloner zuerst vergessen und gleich hernach das amerikanische Junkfood.
Manfred Wieninger, Germanist und Journalist im Ruhestand, erschuf mit Marek Miert eine Figur, die ihm selbst wie auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Laut eigenen Angaben teilen die beiden jedoch lediglich das äußere Erscheinungsbild, was nicht gerade ungewaltig daherkommt. Susanne Rüssler zitiert in ihrem Artikel "So gefragt wie die Vogelgrippe" ("MORGEN" 4/07): "Ich bin weder so risikofreudig noch so neugierig, und schon gar nicht bin ich bereit, solche Mühen auf mich zu nehmen wie der Miert. Er probiert für mich aus, was ich mich nie im Leben trauen würde."
Es ist nicht die Story allein, es ist nicht nur die deftige Millieukritik, es sind nicht ausschließlich die wortgewaltigen Lebensstudien, oder die Dokumentationen urbanen Verfalls ... es ist der Marek, der in jeder einzelnen Zeile fasziniert. Ein Mensch pur. Roh und urgewaltig. Ungeschminkt und ungekünstelt. Ein Fels in der Brandung und doch so zerbrechlich. Fast einer, der am Leben scheitert. Aber nur fast, denn indem Marek dem Schicksal einen Streich nach dem anderen spielt, sollte umgekehrt das Leben aufpassen, dass es nicht an Marek scheitert ...
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