Literatur

Das Dunkle und das Kalte
Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs


von Manfred Wieninger


152 Seiten
© 2011 Edition moKKa, Wien
www.edition-mokka.eu
www.manfredwieninger.com
ISBN 978-3-902693-30-3



Die Krähen werden immer schlauer, weiß der Friedhofsgärtner zu erzählen. Sie würden regelmäßig die roten Grablichter stehlen. Doch nicht nur das, denn sie haben herausbekommen, wie sie an den fetthaltigen Inhalt kommen können. Aus luftiger Höhe lassen sie die Lichter fallen, welche dann auf Grabplatten oder befestigten Wegen zerplatzen. Die Evolution geht auch hier insofern voran, als der Verschlussmechanismus von Grablaternen für einige besonders raffinierte Vögel inzwischen kein Hindernis mehr bedeutet. Weiteren Ärger handelt sich der Gärtner ein, wenn er dieses den entrüsteten Grabbesitzern zu erklären versucht, die ihm natürlich kein Wort glauben. Sein mangelhaftes Budget, nicht vorhandene Senatsbeschlüsse und der Artenschutz hindern ihn aber daran, Giftköder auszulegen. Ihm ist das gerade recht, denn er ist der Meinung, dass diese imposanten Tiere einfach wunderbar auf einen Friedhof passen ...

Es gibt aber auch Teile des St. Pöltener Hauptfriedhofes, der mit 12.000 Gräbern der größte Friedhof in Niederösterreich ist, in welchen es etwas ruhiger zugeht. Hier gibt es keine Beschwerden, selbst wenn pro Jahr nur ganze zwei Arbeitstage für die Reinigung zur Verfügung stehen. Hier führen Efeu und die zahllosen Kollegen Bodendecker ein gnadenloses Regiment "und Stein um Stein wird langsam, unendlich langsam zu Staub". Auf seinen Streifzügen findet Manfred Wieninger einen Gedenkstein, den ein Mann seiner geliebten Frau widmete, welche in Shanghai ums Leben kam. Fast an der diffusen Grenze des Tragisch-Komischen bewegt sich die Erkenntnis des Autors: "Was, denke ich, gibt es für einen St. Pöltner, für eine St. Pöltnerin Schlimmeres, als in Shanghai sterben zu müssen?"

Gleichzeitig berichtet er über Schlimmeres, denn es gab Schlimmeres. Der jüdische Friedhof, der sich auf einem nicht minder verwilderten "Reserveareal" befindet, legt darüber ein stummes Zeugnis ab. Und hier bringt es der Autor wieder auf den Punkt, wenn er gnadenlos die schlichte Wahrheit formuliert, denn von bis heute unbekannten Mördern wurde die jüdische Gemeinde von St. Pölten ausgelöscht. 223 Zwangsarbeiter, Kranke, Frauen und Kinder. Es darf und muss gefragt werden, warum ...!

Auf dem Domplatz in St. Pölten tut sich weltweit Einzigartiges. Bei im August 2010 begonnenen archäologischen Grabungen wurden nicht nur unbekannte Grundmauern in unmittelbarer Nähe des Domes sowie Überreste des ehemaligen Augustiner-Chorherren-Stiftes freigelegt, sondern beispielsweise auch eine mittelalterliche Latrine. Man wühlte metertief im "Dreck anderer" und fand eine satanisch anmutende Tonfigur, welche wohl zu bestimmten Zwecken in die einstige Kotgrube versenkt wurde ...
Noch interessanter sind die inzwischen rund 200 geborgenen Skelette, die eine ganze Reihe neuer Erkenntnisse über "die gute alte Zeit" zu Tage förderten. Über 750 Jahre - von der Spätantike bis in die Neuzeit - diente der heutige Domplatz als Friedhof. Als typischen Wieninger möchte ich die einleitenden Worte seiner Reportage "Der Dämon aus der Latrine" bezeichnen, denn wer sonst sollte es so formulieren: "Fast hundert Jahre lang haben die St. Pöltner auf ihren Vorfahren geparkt."

Eine andere Reportage führt in die Welt des Fußballs, wobei "unterklassige" Vereine nicht ausgespart werden. Das ist wahrlich nichts Neues und selbst mir als bekennendem Nichtfußballer nicht unbekannt. Dass aber Wien in den Dreißigerjahren "so etwas wie die Welthauptstadt des Fußballs" war, erstaunt mich dann doch sehr ...
Die entsprechenden Kapitel befinden sich gleich zu Beginn des Buches, was mich persönlich eher abgeschreckt hat, einer Mehrheit aber sicherlich den Einstieg in die Materie ungemein erleichtern wird, zumal es um niemand geringeren als Franz "Bimbo" Binder (1911-1989) geht, dem berühmten Fußballer aus St. Pölten ...

Manfred Wieninger zeichnet ein nach innen gerichtetes, authentisches Portrait von Niederösterreich, unter besonderer Berücksichtigung seiner Heimatstadt St. Pölten, der Landshauptstadt. Wie erwartet, spart er, da wo es nötig ist, nicht mit Kritik und weiß diese auch mit einem ordentlichen Fundament zu untermauern.

Seine sehr speziellen und auf lokale Gegebenheiten fixierten Betrachtungen machen es allerdings dem Nichteingeborenen nicht gerade leicht, den jeweiligen Besonderheiten folgen zu können. Eine Verbreitung des Werkes über die Grenzen Österreichs hinaus erscheint deshalb schwierig. Allerdings nur auf den ersten Blick, denn vieles ist mühelos übertragbar - seien es irgendwelche Fußballvereine, die als "Integrationsvereine" eine durchaus wichtige gesellschaftliche Rolle übernommen haben, leider aber allzuoft mit den üblichen Auseinandersetzungen, was die verschiedenen Nationalitäten ihres Publikums betrifft, zu kämpfen haben, gigantische Einkaufsparadiese mit "sechzig, siebzig Fetzengeschäften, aber nur einer Buchhandlung" oder dem Verfall und der Vergessenheit ausgelieferte jüdische Friedhöfe. "Österreich, wie es ist" - und gar nicht so wenig ist es anderswo irgendwie auch nicht.

Andererseits zeigt das Buch ein Bild Niederösterreichs, welches der Aussenstehende oder gar der vom Urlaub Verwöhnte so gar nicht kennt - ja gar nicht kennen kann. So könnte man die "mathematische Gleichung" im letzten Satz des Vorwortes von Beppo Beyerl insofern ergänzen, indem man feststellt, dass Niederösterreich weitaus mehr als die Summe seiner herrlichen Postkartenmotive ist.
Wichtiger noch: "Das Dunkle und das Kalte" zeichnet die Individualität eines Volkes (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) und einer Region, und ist ein wichtiger Baustein im Haus der Geschichte kollektiver Erinnerungen und nicht zuletzt eine wichtige Initiative wider das Vergessen ...!

 

Thomas Lawall - Dezember 2011

 

QUERBLATT-Rezensionen weiterer Bücher von Manfred Wieninger:

Der Engel der letzten Stunde
Kalte Monde
Rostige Flügel
Prinzessin Rauschkind
223 oder Das Faustpfand

 

 

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