Literatur

Still

von Thomas Raab


368 Seiten
© 2016 Droemer Verlag
www.droemer.de
ISBN 978-3-426-30511-9



Charlotte Heidemann ist ratlos. Erst wenn ihr Mann Johann von der Arbeit kommt, findet die Tortur ein Ende. Seit seiner Geburt schreit und brüllt ihr Sohn den ganzen Tag. Selbst die Ärzte sind ratlos, denn Anzeichen für eine Krankheit gibt es nicht.

Karl beruhigt sich zunächst erst nach ein paar Kilometern Spaziergang mit seinem Vater. Bald reicht jedoch allein seine Anwesenheit, um das Geschrei zu beenden. Trotzdem behält Johann die ausgedehnte Wegstrecke bei, selbst bei schlechtesten Wetterbedingungen. Seinen schlafenden Jungen bringt er danach ins Bett, doch nachts um zwei Uhr ist die Ruhe vorbei. Der Terror zieht sich die ganze Nacht und den Tag, bis gegen Abend der Vater wieder von der Arbeit kommt.

Charlotte und Johann waren einst ein glückliches Paar. Das ganze Dorf bewunderte sie und ihr Glück, das in seiner Intensität sogar das Befinden der Bewohner positiv beeinflusste. Bis zur Geburt des gemeinsamen Sohnes. Karl "kam bereits unüberhörbar, da konnte von Geburt noch gar keine Rede sein". Das ungeborene Kind boxte und trat immer heftiger gegen die "mütterlichen Grenzen".

Erst wenn die Mutter schlief, gab auch das Kind Ruhe. Sie interpretierte es als Verbundenheit. Sie wäre eins mit dem Kind "wie Herz und Seele". Sie sollte sich grundlegend irren!

Man mag sich gerne an "Der Metzger bricht das Eis" und "Der Metzger kommt ins Paradies" erinnern, die 2012 und 2013 Maßstäbe setzten und ihresgleichen suchten. Thomas Raab gelingt das Kunststück, in "Still" weitere bzw. völlig andere Register zu ziehen, und vermag damit in allen Belangen die literarischen Qualitäten seiner Geschichten mit sich selbst zu multiplizieren. Thomas Raab überrascht mit diesem "Stilbruch" auf der ganzen Linie.

Endlich wieder ein Kriminalroman, der sich von den A-Z erzählten Romanen ohne jedes literarische Profil grundlegend unterscheidet. Von der zynischen und vorlauten Beobachtung seiner Charaktere hat sich Thomas Raab verabschiedet und diese durch bildgewaltige Metapherngebirge ausgetauscht. Fast keine Seite kommt ohne diese aus und die erdachten Personen sind keine seelenlosen Statisten, die in ihrer Eingleisigkeit nicht mehr als lebloses Füllmaterial bedeuten.

Vielmehr stellt er uns Menschen vor, allen voran Karl, und dessen monströses Psychogramm, die in ihrer Intensität und ihrer eigenen Logik eine sehr beunruhigende Glaubwürdigkeit erzeugen: "... nahm das Leiden, gewährte dem Leben Erlösung." Worte, die um so verstörender wirken, als man sie in ähnlicher Form und in einem anderen Zusammenhang zu kennen scheint: "Wie ein Bote, dieses wundersame, erlösende Geschenk in Händen ...".

Bitterböse Gesellschaftskritik formuliert der Autor mit ebensolchen Worten. Brillant, wenn er Höflichkeit als "kultivierte Heuchelei des Menschen" bezeichnet, oder Dorfbewohner beobachtet, die "kleine, mit Tratsch gefüllte Atemwölkchen hin und her schicken".

Und dann immer wieder diese feingewiegte, unterschwellige Bedrohung durch Karl, der schreit und tobt und wütet und schon in seinen ersten Lebensstunden einen ohrenbetäubenden Lärm zu verursachen weiß. Alle Liebkosungen der Mutter bewirken offenbar das genaue Gegenteil: "Alles von ihm zum Ausdruck Gebrachte war Verschmähung."

Niemand weiß, was genau mit Karl los ist. In seinem besonderen Fall versagen alle gesellschaftlichen Parameter. Er ist ein Mensch mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, der durch jedes bekannte Raster fällt. Seine Sorgen und Nöte gehen in vorgegebenen Strukturen schlicht unter. Folglich "zeichnet" er eine völlig eigene Welt, und da er die "normale" nicht versteht, entwickelt er eigene Regeln und Gesetze: "Der Tod war alles, nur keine Beraubung. Der Tod war die Befreiung der engstirnigen, an das Leben anderer gebundenen Anhaftung."
Nicht nur eine Katastrophe ist somit vorprogrammiert ...

Viel mehr als ein Kriminalroman, den Geschichten von Guten und Bösen und der inszenierten Suche nach dem Übeltäter. "Still" ist eine intensive, grenzüberschreitende Erfahrung.

 

Thomas Lawall - Mai 2016

 

 

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