Literatur

Der Metzger bricht das Eis

von Thomas Raab


352 Seiten
© Piper Verlag GmbH, München 2012
www.piper.de
www.thomasraab.com
ISBN: 9783492054737



Krainer ist stinksauer. Die Befehlsgewalt in der Dienststelle liegt jetzt in weiblicher Hand, und seitdem hat sich einiges geändert. Eine ruhige Kugel schieben ist nicht mehr, denn nun gibt es keine wichtigen und unwichtigen Fälle mehr, sondern nur noch offene und erledigte Fälle. Die neue und wesentlich jüngere Kollegin Irene Moritz hat jetzt das Sagen, und sie hat ihrerseits Probleme mit dem "aufgeblasenen, schulmeisternden Restposten namens Krainer". Schon bei der Wahl der Geschwindigkeit des gemeinsam genutzten Dienstwagens gibt es nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten.

Irene Moritz bevorzugt eine etwas zügigere Bewegung des Fahrzeugs, was der Kollege Krainer nicht umzusetzen gedenkt. Auch nicht, als es gilt, jenen Motorradfahrer (der im weiteren Verlauf der Geschichte eine nicht unbedeutende Rolle übernimmt) in eine Geschwindigkeitsfalle zu locken. Während er noch darüber nachdenkt, weshalb seine nervende Vorgesetzte einen VW Golf als Rentnerfahrzeug bezeichnet und warum Langsamfahren schlecht sein soll, nimmt Irene Moritz ein Handygespräch an. Ihr alter Kumpel Willibald Adrian Metzger hat ein Anliegen, denn er war Zeuge eines Selbstmords, der vielleicht gar keiner war ...

... doch die zweite Spur interessiert nicht. Josef Krainers schlechte Laune weitet sich aus. Was soll daran schon ungewöhnlich sein. Zwei Spuren im Schnee führen zum Geländer der Dachterrasse und nur eine zurück. Das kann viel bedeuten. Ein Neugieriger könnte zum Beispiel nach dem Sturz zur Absprungstelle gelaufen sein, "um sich den Haufen Matsch von oben anzusehen". Restaurator Willibald Adrian Metzger wird schnell klar, dass hier wenig Professionalität am Ball ist, weshalb er den Fall wohl (wieder mal) selbst in die Hand nehmen muss. Da hätte er ja gleich "den Priesternotruf oder Pizzaservice bestellen können".

Eigentlich wollte Willibald nur der Anna die Geldbörse zurückbringen, die sie auf einem Spielplatz verloren hatte. Schon bei der Übergabe der Fundsache an ihre Mutter, die mit einer Freundin vor dem Krankenzimmer stand, fiel ihm eine eigenartige geistige Abwesenheit der Mutter auf. Sie hielt es nicht einmal für notwendig, ihre Tochter von dem Fund zu unterrichten, geschweige denn ihr die Börse selbst zu überreichen. Sie beauftragte damit den Willibald und ihre Freundin als Aufsicht, da sie selbst jetzt nach oben wolle, um auf der Terasse eine Zigarette zu rauchen ...

Die vierjährige Anna wäre vormittags beinahe erstickt. Auf einem Spielplatz schluckte sie eine Wasabinuss von Frau Berger, die ihrem Sohn Jakob täglich ein paar Nüsse als Zwischenmahlzeit verabreicht. Zum Ausspucken war es zu spät - Anna bekam keine Luft mehr und fiel zu Boden. Die völlig unerwartete Rettung erfolgte umgehend. Ein allgemein bekannter Stadtstreicher bekam die Szenerie mit und stürmte quer über eine verschneite Wiese zum Spielplatz und leistete erste Hilfe. Mit geübtem Griff umklammerte er sie von hinten, um die Nuss erfolgreich zum Herauspringen zu animieren, dann holte er sie per Mund-zu-Mund-Beatmung ins Leben zurück.

Den Applaus der Umstehenden und das Eintreffen des Rettungswagens bekam er schon gar nicht mehr mit, weil er sich sofort in Bewegung setzte und wie in wilder Flucht wieder über den Rasen in Richtung Einsamkeit flüchtete. Aus den kaum verständlichen Worten des Obdachlosen filterte Willibald Adrian Metzger einen durchaus beunruhigenden Satz heraus. Annas Lebensretter schien die Worte "Jetzt geht das Sterben wieder los, es geht wieder los!" zu formulieren.

Ganz schön harter Tobak für nur einen Tag. Während Restaurator Metzger noch über so überaus sensible Menschen wie den Krainer und dessen Feinfühligkeit ("dagegen ist ein Aufwärtshaken ein sanftes Betäubungsmittel") sinniert, fühlt er sich seinerseits von den Ereignissen des Tages "windelweich geprügelt." Aber der Tag ist ja noch nicht zu Ende. Seine Geliebte und "Herrin" sowie Hund Edgar sind ja auch noch da. Nun gilt es erst einmal zu berichten, wo er sich so lange herumgetrieben hat ...

Der fünfte Fall des ebenso ungewöhnlichen wie unkonventionellen Ermitters Willibald Adrian Metzger ist (wie so oft) mein erster. So langsam entwickelt sich mein Nachzüglertum zu einer Serie, die mir in schöner Regelmäßigkeit den Einstieg in diverse Buchreihen ermöglicht. In der schier unüberschaubaren Masse der kriminaltechnischen Ermittlerhorden ist mir der Restaurator
Willibald Adrian Metzger noch nicht begegnet. Und doch erscheint er mir wie ein Fels in der Brandung und wie eine Perle in den unendlichen Weiten des Krimi-Genres.

Dabei macht Thomas Raab es dem Leser nicht einmal einfach. Seine Fähigkeit, Ereignisse und Personen miteinander zu verknüpfen und in einen größeren Zusammenhang zu stellen, fällt schon auf den ersten Seiten positiv auf. Hier ist wieder mal keine glattrasierte Einheitskost zu Papier gebracht worden, sondern ein Roman mit Ecken und Kanten. Diese setzen allerdings hellwache Leserinnen und Leser voraus, die der mitunter verschachtelten Verstrickung von Ereignissen und Perspekiven folgen können und wollen.

Grauenhaft bizzare Morde gehen Hand in Hand mit unkonventionellem, deftigem Humor sowie existenziellen Betrachtungen über Tod, Sterben und das was man allgemein als Gerechtigkeit bezeichnet. Faszinierend, wie der Autor einen Friedhof beschreibt. Die "finalen Einzimmerwohnungen des Menschen" sehen nämlich wie "das Bild einer Kleinstadt aus der Vogelperspektive" aus. Sowohl nach der Geburt als auch nach dem Tod würden wir alle gleich liegen, "Schulter an Schulter auf dem Rücken, einmal ist es die Säuglings-, einmal die Endstation". Und was ist das Leben, wenn man immer und immer wieder zuschauen muss beim Sterben, "immer wieder zuschauen müssen, so lange, bis man selber drankommt". Und eine Theorie hat er entwickelt, der Metzger. Immer wieder findet er sie bestätigt, denn diese Welt erscheint ihm als "absoluter Gegenentwurf zu einer im Menschenhirn herangewachsenen Vorstellung von Gerechtigkeit."

Fast könnte man resignieren, wenn Thomas Raab den Spieß nicht hin und wieder umdrehen würde und an Situationskomik aus dem Leben herausholt, was eben zu holen ist. Und manchmal auch darüber hinaus. Schlimm, wenn man sich in den Bergen verfahren hat. Selbst wenn das Ziel in Sichtweite ist, kann die Wahl eines falschen Abzweigs fatale Folgen haben. Weite Rückfahrten durch endlose Serpentinen wären die Folgen. Wenn aber der Metzger mit seiner überaus vorlauten Freundin Danjela Djurkovic und seiner rabiaten Halbschwester Sophie Widhalm unterwegs ist, bleibt erstens kein Auge trocken und zweitens kein Weg zu weit. Denn zur Not wird schon mal eine Abkürzung quer über eine belebte Skipiste genommen. Wozu hat man schließlich Allradantrieb?!

Ein herrlich schräger Krimi, der sich einen Dreck um Konventionen schert!

 

Thomas Lawall - April 2012

 

 

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