Literatur

Die Landgeherin

von Hans Haid


190 Seiten
© 2011 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
www.cultura.at/haid/index.html
ISBN 978-3-85218-683-2



Vor drei Tagen hat sie sich von ihrer Sippe entfernt, geflohen vor der brutalen Hand des Vaters und auf der Suche nach der ersehnten Freiheit, was immer das auch sein mag. Ana sucht ihren eigenen Weg, doch die rauhe Bergwelt, fern jeder Idylle und Bewunderung, kennt keine Gnade und macht es ihr alles andere als leicht.

Doch sie lässt sich nicht beirren. Sie ist die Erstgeborene und eine fromme noch dazu. Völlig aus der Art geschlagen und vom Vater einst regelrecht aus der Kirche geprügelt und an den Haaren herausgeschleift worden. Den Rosenkranz fest umklammert, reißt ihn der Vater in Stücke. Die Perlen fallen auf den Kirchenboden "wie die Tränen zu Boden gerollt". Noch weint sie still, dem Vater zum Trotz, und versteckt das ganze Leid in sich selbst und einer geheimnisvollen Kraft.

"Dörcherpack" sind sie, wie einst die umherziehenden Landgeher genannt wurden. Die Laniger, Karner und Dörcher und die verarmten Bauern. Immer unterwegs, mit Kind und Kegel und bei jedem Wetter. Sie flicken Kessel, schärfen allerlei Messer und Feilen, reparieren Arbeitsgeräte und Schirme und machen sich nützlich für einen Hungerlohn. Zur Not müssen sie betteln oder stehlen.
Sie sind die Verlierer und Ausgestoßenen - die, die es nicht geschafft haben. Wie Anas Großvater, der "Abgehauste". Seinen Hof gab er auf, weil er für das Leben eines Bauern nicht geschaffen war. Anas Vater war somit der Sohn eines abgehausten Bauern, was mehr als nur schlechte Vorraussetzungen in schwerer Zeit und einem Lebensraum waren, der menschenfeindlicher fast nicht sein konnte.

Ana aus dem Passeiertal ist anders. Belesen und gescheit. Und sie hat eine Vision. Sie interessiert sich für die alten Geschichten, die sie auf den Wallfahrten hörte und für die vielen Heiligen, die alle verehren. Und sie möchte mehr erfahren über die geheimnisvollen Herrinnen der Berge, die rote Fahnen schwingend in schneeweißen Kleidern durch die Berge ziehen. Leuchtende, mächtige Wesen sollen sie sein, die "Saligen".

Auch was es mit den Steinhaufen im Zerzertal auf sich hat, möchte sie herausbekommen. Und was die Pfarrer verbieten sowieso. Was ist dran am Gerede über "Teufelszeug und Hexerei"? Auch der alte Glaube rund um den Sonnen-Kult fasziniert sie. Und immer wieder kreisen ihre Gedanken um die sagenhaften Saligen, jene Frauen, die hoch oben in den Bergen ihr Versteck hüten, verborgen im ewigen Eis der Gletscher. Dort, wo es auch einst die geheimnisumwitterte Stadt Dananä gegeben haben soll ...

Hans Haid, im Ötztal lebender Volkskundler, Alpenforscher, Publizist und Schriftsteller, zeichnet in seinem Roman ein bewegendes Bild vom Leben in rauher Gebirgswelt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In diesem Bild erscheinen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit in diffusem Licht. Mythos und Realität nähern sich einander und begegnen sich in der Figur der Landgeherin Ana, ihrer Reise, ihrer Flucht, ihrem Leben und ihren Träumen. Entbehrungen erlebt sie, die wir uns heutzutage kaum mehr vorstellen können. Für sie sind die Berge nicht schön, kein Naturwunder, kein heimeliger Schutz und kein Bild der Bewunderung. Sie und ihresgleichen haben keinen Blick für die Bilderbuchlandschaften, die sich dereinst auf Bergen von Postkarten stapeln werden. Für sie ist die rauhe Wirklichkeit eine andere. Sie leben mitten in der Natur und mit ihr. Sie sind ihr erbarmungslos und unmittelbar ausgeliefert. Lawinen, Muren und das Hochwasser sind eine tödliche Gefahr, fast schlimmer noch als der ewige Hunger und die Besitzlosigkeit. "Bevor sie verhungern, nehmen sie noch das Wenige in vollen Zügen, und dann wieder haben sie karge Tage und Wochen darbend hingenommen."

Nach den bewegenden Büchern "Lebenskörner" von Astrid Kofler sowie "Rauhe Sonnseite" von Franz Josef Kofler hat sich mit "Die Landgeherin" mein Blick in die Berge nun endgültig verändert. Das Märchen des idyllischen Alpenlebens hat sich verflüchtigt, und einmal mehr wurden meine Sinne geschärft und vorgefertigte Ansichten ganz erheblich korrigiert. Ich werde alles mit anderen Augen sehen, wenn ich das nächste Mal in die Berge reise ...

 

Thomas Lawall - September 2011

 

 

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