Literatur

Lebenskörner

von Astrid Kofler


272 Seiten
© 2010 HAYMON Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
ISBN 978-3-85218-632-0



Es liegt ein Zauber über diesem Buch. Die erste Seite wirkt wie eine Kameraeinstellung zu Beginn eines Films, der Geschichten aus vergangenen Tagen erzählen möchte. Wir schreiben den 18. April 1927. Es ist Ostermontag. Sanft aber eindringlich zaubert Astrid Kofler mit Worten ein Gemälde aus Licht und schwerer Zeit. Schon die erste Episode zeichnet ein impressionistisches Meer aus wogendem Mut und grenzenloser Melancholie ...

"Jetzt können wir unser Märchen beginnen", denkt Giuseppina, die als jüngste der vier Töchter ihres Vaters heimlich das Haus verlässt. In aller Herrgottsfrüh macht sie sich mit ihrem Geliebten auf den Weg. Giuseppe ist Hausierer, lebt ohne festen Wohnsitz hier und dort, und bis die Kinder kommen, will sie mit ihm gehen. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen und durch das erste Strahlenbündel Licht und den aus den Tälern kriechenden Nebel machen sich die beiden auf den Weg zu jener Kirche und Frater Minore, der sich bereit erklärte, die beiden zu trauen. Seinen Lohn haben sie ihm eingepackt: Mandelgebäck, eine Blechkanne mit frisch abgefülltem Likör, etwas Salz, eine Tonschüssel und ein Glas Essiggurken. Die Zuversicht reist mit und als Giuseppina den Kirchturm sieht, entscheidet sie spontan, dass sie hier ein Haus haben möchte mit einem Garten und einem Fenster zur Straße, wenn die Kinder da sind. Doch auch ganze Berge aus schlechtem Gewissen gehen mit auf die Reise. "Ich werde dich vermissen Mamma und ich werde dich vermissen Papà. Ich will vergessen, was vorher war, alles, was trennt, will ich vergessen. Lieber Gott, hilf mir, sag mir, dass das nicht falsch ist, was ich tue. Bitte hilf, dass ich damit leben kann, dass Papà heute erwachen wird und Mamma es von ihm zu hören bekommt ..."
Doch ihr Wille ist stark und sie richtet ihren Blick nach vorne. Noch stärker ist ihre Liebe zu Giuseppe, denn sie wird immer bei ihm sein, immer mit ihm gehen und immer auf ihn warten. "Bitte Gott, lass mich sterben, vor ihm."

1939 vor dem Hintergrund des Abkommens zwischen Hitler und Mussolini, die Umsiedlung der deutschen und ladinischen Minderheit in Südtirol betreffend, meint Luis Strumpflohner, des Johann Strumpflohners Vetter, dass nun alles gut sei. Lange vor der Frist hat er als einer der ersten unterschrieben. Wenn sie rasch gehen würden, bekämen sie wohl einen der schönsten Höfe, so denkt und hofft er. Einen wunderbaren Ersatz für das, was sie verloren haben. "Wir sind aus dem Nichts gekommen, wir gehen ins Nichts, was hat das schon für eine Bedeutung." Doch seine Frau hat Angst vor der Fremde und der Gesellschaft der vielen Heimatlosen, denn wo mochte man schon Fremde. Seit einem halben Jahr schon leben sie im Haus des Vetters, nachdem ihr eigener Hof, Scheune und Stadel abgebrannt sind. Der Brotbackofen war zu alt gewesen. Doch nun soll ja alles gut werden. "Wir werden gehen in ein Nichts, das mehr sein wird als das, was wir verlassen. Das Land hier ist nicht mehr unseres, du wirst sehen, Frau, alle werden sich fürs Gehen entscheiden, werden heim wollen ins Reich, wir werden die ersten sein." Seiner Frau bleiben vage Gedanken des Misstrauens ob seiner allzu sicheren Gewissheit, doch letztlich gibt sie ihm recht, denn was gibt es schon zu Hause außer den verbrannten Mauern des Heimathofes und dem Hof von Johann, der nur eine Familie ernähren kann ...

... und das frisch aufgeschüttete Grab des kleinen Luis. Die Erinnerungen quälen ihren Mann, er trinkt zu viel und hebt die Hand gegen die Kinder. Dabei ist es doch ihre Schuld, dass ihr Sohn an einem der schönsten Tage des Sommers ertrank. Die Frauen hatten Wäsche gewaschen am Ufer des Sees und die Kinder warfen Steine hinein. Niemand bemerkte Luis, der ins Wasser gegangen war und noch "Mama" schrie, "dass sie es nie mehr wieder würde vergessen können", doch es war zu spät. Jetzt spricht seine Mutter im Gebet zu ihm, und bittet ihn um Vergebung: "Hätte ich nur sterben können für dich, das Band wird nie reißen, kleiner Luis, und ich werde zurückkehren, wenn die Zeiten es erlauben, ich lass dich nicht allein, ich bin in Gedanken bei dir. Und beschütz uns, der du uns voraus bist, du bist unser Engel, kleiner Luis, begleite uns, dass wir ein Zuhause finden, begleite uns, dass wir irgendwo bleiben können."

Im Mai 1940 lesen Seppl und Rosina Strumpflohner in den Wolken. Seppl liegt mit seiner jüngsten Schwester im Gras. Sein Einberufungsbefehl ist schon da, seine Zeit bald gekommen. Doch vorerst siegen die Träume über das Grauen der nahenden Realitäten - noch hat die Phantasie Flügel. "Ich will fliegen, kleine Rosina, kommst du mit mir, ich werde fliegen, auch wenn es der Krieg ist, der mir das Fliegen schenkt. Rosina entdeckt in den Wolken Tiere, Monster und Ungeheuer. Schön muss es da oben sein, denkt sie, und sieht ein Flugzeug, ihr erstes, während des Krieges. Dann wieder Ozeandampfer oder feuerspeiende Drachen, alles vom Wind in Eile verweht ...

Mitten im Krieg stirbt 1942 der Pfarrer. Einfach so ist er gegangen, ohne dass man es ahnen konnte. In der Zeitung das Bild von einem russischen Soldaten, der von einem Panzer überrollt wurde. Er war ein streitbarer Mann, doch wusste er auch, sich anzupassen. Ein "Dableiber". Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen. Es regnet in Strömen bei seiner Beerdigung, und die Fahnen hängen schlaff. Das hätte ihm wohl gefallen und ein stilles Lachen entlockt.

1943. Rosina kann mit den neuen Namen nicht viel anfangen. Wer soll das sein - der Mussolini, der Hitler und der Roosevelt. Der fesche Kaiser, ja das war einer. Sein Sterbebild liegt in der Schachtel von Großmutter bei all den anderen Bildchen. Sie beobachtet den Mesner, der mit seinem Gehstock in der Luft herumfuchtelt und etwas von Befreiung ruft. Die Eltern sagen, es sei besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Er wäre in Amerika gewesen, in einem Kohlebergwerk und im Krieg. Eine Knieverletzung brachte er mit, doch einen großen Teil seines Verstandes soll er verloren haben. Er, der wahrscheinlich vor einiger Zeit das Mussolini-Bild im Rathaus mit Eselsohren und einem Hirschgeweih verschönert hatte. Er, der in einer Gruft und einem selbstgezimmerten Sarg gerne zur Probe liegt. Er, der die Glocke bei Wind und Wetter läutet und er, der die Gräber von denen pflegt, die niemanden haben ...

Rosina ist acht Jahre alt geworden. Sie wünschte sich ein Puppenhaus, dass jetzt duftend, "wie frisches Holz eben duftet", vor ihr steht. Zwei Stockwerke mit Küche, Speis, zwei Schlafzimmer und Stube. An der Wand eine Postkarte als Tapete. Ein Mann ist darauf zu sehen mit einem kleinen Bart über der Oberlippe. Rosina kennt das Bild, denn ein ähnliches hängt auch in der Schule. Der Mann schaut sehr streng und der Bart war lange nicht so schön, wie der des Kaisers. "Das ist der Hitler", sagt der Vater. "Das ist der Adolf Hitler. Es heißt, der bringt die Freiheit. "Vergelt's Gott" sagte Rosina.

Der Krieg wirft seine Schatten, die Söhne kehren nicht mehr heim. Selbst die Spielzimmer in den Kindergärten werden mit blumengeschmückten Bildern des Führers ausgestattet. Man stellt sich gerade hin und und grüßt mit "Heil Hitler", denn "Grüß Gott" hat man abgeschafft. Hinweg sind auch die Illusionen, denn die Reichen bleiben reich und die Armen dürfen mit wenig oder nichts auskommen ...

Die Episoden aus 80 Jahren Menschenleben in und um Südtirol drehen sich weiter. Wir erleben ein Streiflicht aus dem Leben von Krankenschwester Judith, die 1945 ohne Pause zwischen Lazarett und Notaufnahme pendelt. Züge, beladen mit Verletzten, weniger oder meist schwer verwundet, und nicht wenige ohne jede Hoffnung. Sie werden nach Dringlichkeit aussortiert. Name und Herkunft spielen erst einmal keine Rolle.
Zwei Jahre später beobachten wir den Hof von Rosa, die 13 Kinder auf die Welt brachte. Zwei waren tot, aber die anderen gesund, doch weit verstreut, denn einige musste sie weggeben, weil das Essen nicht reichte. Ihrem Sohn Peregrin, dem Saatguthänder, der immer unterwegs ist, trägt sie auf, sie zu besuchen und einzuladen. Die Zeiten hätten sich geändert, jetzt wäre wieder Platz. Sie will auf sie warten und alle noch einmal um den Tisch versammeln. Sie verzehrt sich nach ihnen, würde sie doch keines, trotz allem, missen wollen.
1950 ist Peregrin mit seiner Braut Klara auf Wallfahrt. In einer Kapelle erzählt eine Mesnerin von ihrer jüngsten Schwester, die auch Klara heißen sollte. Sie starb mit der Mutter bei der Geburt. "... das Begräbnis war ihre Taufe und mit der Mutter liegt sie begraben unter einem Kreuz ohne Namen."

Wir treffen auch jene wieder, die 1953 nochmals zum Traualtar schreiten und die jetzt ihr Märchen richtig beginnen wollen. Der Vater hatte damals gebrüllt und getobt, und er starb einen grausamen Tod, noch bevor seine Töchter verheiratet waren.
1958 begegnen sich zwei, die wir ebenfalls kennen und es bahnt sich etwas an. Beim "Holepfannsonntag" treffen sie sich wieder. Der Winter wird ausgetrieben und der Frühling geweckt ...

Das Leben geht seinen Weg, endet oder verzweigt sich. Die neuen Wege ersetzen die alten und immer weiter verwebt sich das Schicksal der Menschen. Es geht zu neuen Ufern oder wieder zurück. Ein Kommen und Gehen. Märchen können beginnen, und wahrlich märchenhaft ist auch die Sprache, wenn auch oft verschachtelt und mit langem Atem, mit welcher Astrid Kofler den Leser zu bewegen vermag. "Lebenskörner" ist so sanft und einfühlsam geschrieben, dass man gar nicht vorankommen mag in diesem Buch. Schon die ersten Zeilen und Seiten lassen mich in Zeitlupengedanken versinken und mich das Leid und Elend, aber auch das Glück wahrlich spüren. Gefühle sind "das Saatgut des Lebens" und "das Leben sind wir selbst". Allein die erste Episode des Romans lese ich immer und immer wieder. Möge dieses Buch niemals enden, denke ich schon auf der ersten Seite! Doch diese Gefahr besteht überhaupt nicht. Dieses Buch kann niemals enden, so wie nichts jemals wirklich aufhört. Die Menschen finden und verlieren sich wieder.

"Schwalben sanken wie brechende Wellen, bald würden sie wieder ziehen."

Vielleicht ziehen auch wir immer weiter, einfach nur weg und anderswohin. Was bleibt sind Geschichten, die irgend jemand irgendwann vielleicht auch über uns schreibt. Ein paar Gedanken nur, die das Gewesene am Leben erhalten und noch einmal in die Gegenwart zaubern. Worte gegen das Vergessen und die Erbarmungslosigkeit der Zeit, die stets nur nach vorne drängt ...

 

Thomas Lawall - Juni 2010

 

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