Doppel-Blind-Review Nr. 2

Auflösung des Doppel-Blind-Reviews Nr. 2
 

CANVAS SOLARIS - The Atomized Dream (2008)

Prog-Rock(-Metal)



... der mathematisch-genialen Sorte. Also, ich hab ja schon viel gehört, aber diese Platte hier schlägt dem Fass ja wohl den Boden endgültig aus! Und das ohne Vorwarnung. Mehrmals pro Jahr kaufe ich mir einfach, und meist ohne viel Infos im Vorfeld, eine Handvoll CDs. Im Sommer 2008 waren es Scheiben aus der progressiven Ecke, denn wo sonst gibt es noch Innovationen neben all der glatt- und totproduzierten Massenscheiße für die Legionen musikalischer Sozialhilfeempfänger. Um dieser Sackgasse zu entfliehen, greife ich hin und wieder in die Zauberkiste, um vorbehaltlos Neuland zu betreten, was in diesem Fall völlig neue Dimensionen auftat. Zudem sollte ich entdecken dürfen, nach all den Jahren das Staunen noch immer nicht verlernt zu haben.

Das erste Stück "The Binaural Beat" kommt ebenso brav wie leicht spacig rüber, was zunächst auf eine völlig falsche Fährte führt. Derart werde ich aber gerne an der Nase herumgeführt, denn schon im zweiten Track "Reflections Carried to Mirror" schlägt der Wind unvermittelt um. Der progressive Anteil nimmt drastisch zu und was sich hier andeutet, wird sich im späteren Verlauf ins Unermessliche steigern. "Chromatic Dusk" gönnt sich und uns weitere traumtänzerische Verspieltheiten, die an allerlei Altmodisches in den 70er und 80er Jahre erinnern, ohne dass sich allerdings konkrete Bandvergleiche ins Resthirn mogeln. Wenn die werten Kollegen der schreibenden Zunft aber hin und wieder entfernte Verwandschaften mit KING CRIMSON entdecken, möchte ich da nicht widersprechen. Ansonsten ist die Komplexität der Kompositionen ohne Beispiel. Mir mag - auch nach sicherlich 100 Hördurchgängen - nichts Vergleichbares einfallen ... eeeendlich mal eine Prog-Kapelle, die mich NICHT zu YES-Zitaten nötigt! Wenn schon, dann würden mir stellenweise eher Namen wie ZAPPA oder GORDIAN KNOT in den Sinn kommen ...

Gleichwohl und nebenbei eine Warnung an alle Vorbeisurfer, denn dies ist kein Review im herkömmlichen Sinne. Es handelt sich vielmehr um eine Auflösung. Zwei unserer Forenmitglieder (Anja-Maria und Carsten) mussten freiwillig die Scheibe im Rahmen unseres zweiten "Doppel-Blind-Reviews" besprechen und zwar ohne jede Informationen. Bandnamen und Titel waren also keinem bekannt ... was zu außerordentlich unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Neben einem Loblied haben wir einen Totalverriss erhalten. Ich hatte derart diametral auseinanderliegende Einschätzungen nicht im Geringsten erwartet, dennoch bin ich froh und glücklich, die beiden Stimmen veröffentlichen zu können und zu dürfen. Denn neben der freien Meinungsäußerung ist in unserem Zine auch und vor allem ein gewisser Unterhaltungswert des geschriebenen Wortes sehr gerne gesehen, und aus dieser Sicht spielen beide Berichte dann wieder in der gleichen Liga.

Ok, "Patterns Spiral into Swarm" gibt wieder etwas Gas und die Protagonisten geben erste Einblicke in die mathematisch genauen Deftigkeiten, die sie erstmals zur Schau stellen und noch werden. Ultrapräzise Breaks und Überschläge nageln mich an den Boxen fest und nötigen mir permanenten Szenenapplaus (der gestandenen Art) ab.

"Heat Distortion Manifest" platzt mit der Tür ins Haus. Ab jetzt wird nur noch auf Millimeterpapier musiziert. Gnadenlos ausgetüftelte Gitarrenparts treffen auf Klänge der Unendlichkeit, die per antiquierten Keyboardsounds gezaubert werden, und auf einen Schlagwerker treffen, der von göttlichen Gnaden zu sein scheint. Im Mittelteil ereignet sich dann ein erster Salto Mortale, gefolgt von weiteren, die so ziemlich das klügste sind, was mir jemals zu Ohren gekommen ist. Dann "fusioniert" das Ganze auch noch und driftet, zumindest für kurze Zeit in eine Art Jam-Session ab, um kurz danach wieder zu den angedeuteten Kopflastigkeiten zurückkehren. Herrschaften, das ist ganz großes Theater. Aber es kommt ja noch viel besser ...

... "Photovoltaic" spielt (wieder) mit den Gegensätzen akkustischer und elektrischer Klänge und entwickelt aus dieser Ruhe heraus einen Spannungsbogen, den kein Sänger unterstützen muss. So kommt denn auch das komplette Album ohne einen solchen aus. Die Bilder, die ein Sangesfürst zu zeichnen beliebt, vermag die völlig geniale Instrumentalfraktion mühelos selbst zu erzeugen. Und zwar in rauhen Mengen.

Richtig kompliziert wird es ab Track 7. "Solar Droid" kommt nicht nur spacig abgedreht sondern auch recht spaßig salopp rüber. Das ist kein hirnloses Gefrickel oder eine Zurschaustellung immenser Fähigkeiten, sondern schlicht ein Fest für alle Schachtelsatzliebhaber und -sammler sowie den ambitionierten Hobbyphilosophen. Ich kann und werde mich wohl niemals an diesen hochintelligenten Traumdeutungen sowie an diesen brachial-schrägen Virtuositäten satt hören können.

Der letzte Track summiert die vorangegangenen Großtaten, wobei ich mich sehr freue, diese Floskel endlich mal wieder in Gebrauch nehmen zu können. "The Unkowable and Defeating Glow" führt aber keine simple Addition durch, sondern markiert das Ende eher mit einer Quadratwurzel. Die Musikanten legieren Ideenreichtum, komplexe Kompositionen, brachiale Traumsequenzen, irreale Soundkapriolen und ein Augenzwinkern zu etwas bisher nicht Gehörtem. Kaum zu fassen, dass die begnadeten Tech-Metaller aus Georgia, neben der 2003 erschienenen EP, schon drei Longplayer herausgebracht haben, ohne dass ich dieses bis heute bemerkt habe. Ein Skandal!

Im November 2008 hatten wir "The Atomized Dream" in unseren Charts, kurz darauf aber - aus nachvollziehbaren Gründen - wieder verbannt, damit unsere Blind-Reviewer womöglich nicht einen Hinweis zu viel erhalten. Da nun die Katze aus dem Sack ist, katapultiere ich CANVAS SOLARIS nunmehr ohne Umwege auf Rang 1 der April-Charts.

Fazit: Intellektueller Prog-Metal der Referenzklasse.

Thomas Lawall - April 2009

Bewertung: 12+/12



Line-up:

Guitars: Nathan Sapp
Guitars: Chris Rushing
Keyboards: Donnie Smith
Bass: Gael Pirlot
Drums: Hunter Ginn

www.myspace.com/canvassolaris


Tracklist:

1. The Binaural Beat
2. Reflections Carried to Mirror
3. Chromatic Dusk
4. Patterns Spiral into Swarm
5. Heat Distortion Manifest
6. Photovoltaic
7. Solar Droid
8. The Unkowable and Defeating Glow

 

 

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum