Ich gebe zu, dass es mich sehr reizte, nach den bulgarischen Stimmenphänomenen im Gegenzug AnjaMaria mit einer hoffentlich nicht nur für mich besonderen Scheibe zu überraschen. Eine Platte, die mich wohl bisher am tiefsten und nachhaltigsten beeindruckte. Und das will was heißen. Aber wie wirkt sie auf die "Reviewerin"?
Vor der Flut - Hommage an einen Wasserspeicher
lautet der Titel. Schon ungewöhnlich. Kann man sich darunter schon etwas vorstellen? Wohl kaum. Was hat es also mit der Scheibe auf sich?
1984, also vor genau einem Vierteljahrhundert, war eine Filmcrew unter Leitung von Hinnerick Bröskamp auf der Suche nach geeigneten Drehorten für einen Film zum Thema Trinkwassergewinnung. Man besichtigte u.a. das über 100 Jahre alte Wasserwerk Severin in der Kölner Südstadt. Die historischen Gebäude und Einrichtungen wurden damals seit zwei Jahren aufwändig restauriert und mit modernen Filteranlagen ausgestattet. Und man erhielt die Erlaubnis, den unter den Gebäuden befindlichen Trinkwasserspeicher ausnahmsweise besichtigen zu dürfen. Sonst ist er mit ca. 20 Millionen Liter Trinkwasser gefüllt. Wegen der Restaurierungsarbeiten war er aber völlig leer. Ahnen wir schon was? Vielleicht. Die riesige, mit starken Pfeilern abgestützte Speicherhalle hatte, wie Bröskamp gleich bemerkte, einen ungeheuer langen Nachhall. Seine Rufe hallten "wie ein Meer von unzähligen Stimmen", wie er im Booklet zur CD schwärmerisch beschreibt. Und er erinnerte sich an musikalische Aufnahmen des US-Amerikaners Paul Horn vom Jahr 1968 im indischen Grabmal Taj Mahal. Einem Raum, der nicht nur durch seine Schönheit, sondern auch für seine einmalige Akustik weltweit bekannt ist. Horn maß in Taj Mahal einen Nachhall von 28 Sekunden. Doch jetzt kommt das Sensationelle: Im Wasserspeicher ergab sich eine längste Nachhallzeit von sage und schreibe 45 Sekunden!
Im Dezember 1984 sollte der Speicher nach Beendigung der Arbeiten wieder geflutet werden. Böskamp erreichte auf seine Bitten hin, dass man das Fluten um einen Monat verschob. Auf diese Weise konnten Ton- und Filmaufnahmen durchgeführt werden. Im Booklet steht ausführlich, mit welchen akustischen und sonstigen Problemen man sich konfrontiert sah. Die Aufnahmen wurden übrigens ausschließlich mit im Raum verteilten Mikrofonen ohne zusätzliche Studioeffektgeräte aufgenommen. Schließlich hatte man alles in audiophiler Qualität im Kasten. Ich kann mich heute noch ärgern, dass ich seinerzeit den im Fernsehen ausgestrahlten Film nicht auf Band aufnahm. Durch den Film wurde ich ja erst auf diese außergewöhnliche Produktion aufmerksam. Vielleicht erinnert man sich einmal an diesen wunderbaren anspruchsvollen Streifen mit fantasievollen Tanzeinlagen.
Die Titel:
01. C. Bollmann / G. Kappelhoff / R. Laneri / H. Scherner / J. Vetter / S. Wolff / D. Zeman - Invocationes 2:59 02. D. Domingues - Pacha Siku 3:40 03. Pauline Oliveros - Watertank Software 4:41 04. B. Siebert / J. Koinzer - Trüffeltanz 4:14 05. G. Kappelhoff / H. Scherner / J. Vetter / D. Zeman - Praevocationes 5:25 06. D. Domingues - The Spirit Of The Wind 3:44 07. P. Oliveros - The Gentle (Short Version) 5:42 08. B. Siebert / J. Koinzer - Wal-Hall-A 4:47 09. Saxophon Mafia - Kellerdschungel 4:50 10. C. Bauer - Bötz 10:05 11. B. Dähn / W. Hamm / M. Höhler - Unter Der Stadt 6:52 12. Heiner Goebbels - Die Sintflut (Ein Vorfilm Für Herbert Achternbusch) 6:29
Die mitwirkenden Musiker:
Conrad Bauer, Christian Bollmann, Butz Döhn, Dario Domingues, Heiner Goebbels, Wolfgang Hamm, Michael Höhler, Gerd Kappelhoff, Joe Koinzer, Roberto Lanri, Pauline Oliveros, Kölner Saxophon Mafia, Helmut Scherner, Büdi Sibert, Jochen Vetter, Stephanie Wolff und Doris Zemann sowie das Tanzforum der Oper Köln.
Instrumente und Geräusche:
Wenn man liest, welche Instrumente oder andere, für Modulationen geeignete Gegenstände und Geräusche man für die Produktion verwendete, staunt man nicht schlecht: Posaune, Obertongesang, Marimbaphon, Percussion, Panflöte, Kinderspielzeug, Gummischlauch, Schritte, Wasser, Geige, Balaphon, Dubatschi-Gongs, Akkordeon, Klarinette, Sopran- und Baritonsaxophon, Bassflöte, Bambusflöte. Auch hieraus kann man eine Dimension erahnen, die es in sich hat ...
*Bemerkungen zu den einzelnen Kompositionen:*
Zu 1 Eine schöne Einstimmung auf das kommende Ereignis ereilt uns mit "Invocationes" - mit mehrstimmigem Chor, der mit reiner Lautmalerei die akustischen Möglichkeiten des Trinkwasserspeichers auslotet und eine weihevolle Stimmung zaubert.
Zu 2 "Pacha Siku" wird von Dario Domingues auf einer tiefstimmigen Panflöte mehr gehaucht als gespielt. Nur wenige Einzeltöne entführen uns in sphärische Höhen und lassen uns immer schneller steigen. Herrlich angeblasene Panflöte. Der Trinkwasserspeicher öffnet sich vor unserem musikalischen Auge in seiner ganzen Weite und Unheimlichkeit. Zu 3 Eine fernöstlich anmutende Stimme begleitet uns auf einem Klangteppich von fast meditativem Charakter. Könnte man sich nicht so die Gesänge in einem buddhistischen Kloster vorstellen?
Zu 4 Der "Trüffeltanz" (keine Ahnung, wie man auf so einen Titel kommen kann!) mit Saxophoneinlagen und schrittartigem Rythmus.
Zu 5 "Praevocationes": Prägnant wieder diese fernöstlich anmutenden Stimmen mit Obertönen. Meditation pur!
Zu 6 Gänsehautfeeling! Dies ist bei mir sicher auch dadurch begründet, dass diese Komposition Teil eines Soundtracks für mein erstes Ballonfahrt-Video war, als ich in 2500 m Höhe vor der Alpenkulisse quasi über den irdischen Dingen schwebte. Melancholische, klagende, sehnsuchtsvolle Flötentöne, die später in einen schnelleren Rythmus wechseln und die wunderschöne Traumreise zur realen Erde zurückbeamen. "Spirit of the wind" - das kann süchtig machen. Nein, es macht(e) süchtig.
Zu 7 In "The Gentle" gibt ein Akkordeon den Ton an und spielt viele Variatonen durch.
Zu 8 "Wal-Hall-A": Durch tiefes Tuten eines "Ozeanliners" wird man etwas unsanft aus den Träumen gerissen. Der folgende Klangraum mit Saxophon und anderen Blasinstrumenten sowie einem spektakulärem Mittelteil lässt aufhorchen. Wahnsinnig aufregend.
Zu 9 Wabernde Klangcollagen durchziehen den "Kellerdschungel". Zum Frösteln! Eine Frauenstimme fliegt auf Musikoktaven wie ein Insekt durch die Halle. Dazwischen wieder fantastisch klingende Klarinetten und andere Instrumente, die ich nicht zu definieren vermag. Ideal zum Vertonen, wenn man entsprechend mystisches Bildmaterial hätte. Zum Ende des Cuts überrascht uns eine kleine Jazz-Session.
Zu 10 Eine Jazz-Improvisation mit sich "überschlagenden" tubaähnlichen Klängen, die in atemberaubendem Stakkato die Tiefe und den langen Nachhall des Wasserspeichers in absolut genialer, experimenteller Weise ausreizen. Im zweiten Drittel kommunizieren die Instrumente miteinander, tanzen, "reden" miteinander. Und sehen aufgeregt, immer lauter und wilder gestikulierend dem nahen Ende entgegen. So klingt also der "Bötz", was auch immer das sein mag. Wow, das ist unbeschreiblich spannend. 10 Minuten, die viel länger sein dürften.
Zu 11 Hier wird man mit Geigenklängen "unter der Stadt" überrascht, die aus einer anderen Welt herzuwehen scheinen, begleitet von Trompeteneinlagen.
Zu 12 "Die Sintflut" klingt auch so. Ein infernalisches Stück. Quiekende Ratten machen Angst. Kälte und Feuchtigkeit umgibt den Hörer in dem unterirdischen Verließ. Eine beeindruckende Geräuschcollage aus der Unterwelt, die in der zweiten Hälfte einen musikalischen Kontext erkennen lässt, durchsetzt von weiteren unheimlichen Geräuschen und dunklen Sirenenklängen. Und blubberndem Wasser, das bis zum Hals des atemlosen, bewegungsunfähigen Hörers zu steigen scheint. Dann Ruhe. Ideal für die außergewöhnlichen Achternbusch'schen Filmkreationen!
Soweit meine Eindrücke.
Hier einige interessante Links mit Fotos vom leeren Trinkwasserspeicher:
www.koelnarchitektur.de/pages/de/home/360_grad_essays/1054.unter_wasser.htm
www.decampofilm.de/
(Auf Produktionen klicken, dann kann man Fotos aus dem Film sehen!)
Meine Wertung: 13/12, wenn dies möglich wäre! Ist es nicht, also 12/12!
Gerd Müller, September 2009
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