Seht ihr es nicht?
von Georg Haderer
332 Seiten © Haymon Verlag Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at ISBN 978-3-7099-8125-2
Fernsehkrimis und die Realität sind zwei Paar Schuhe. Richtige, echte Polizeiarbeit würde in großen Teilen niemand interessieren. Sie ist langweilig, stupide und völlig unspektakulär. Nicht in Bilder umsetzbar, denn Zuschauer würden schneller um- oder ausschalten, als bei einem "Werbespot mit der Familie Putz".
Philomena Schimmer geht die Listen vermisster Personen durch, was sich zunächst recht spannend anhört, jedoch keineswegs ist, wenn man weiß, dass es allein Österreich im Jahr 2020 auf gut 10.000 "Vermisstenfälle" gebracht hat. Sie ist im "Kompetenzzentrum für abgängige Personen" (KAP), einer selbstständig agierenden Unterabteilung des BKA, beschäftigt, welches sich vorrangig mit der Koordination sämtlicher an der Suche beteiligter Behörden und Organisationen beschäftigt.
Georg Haderer nutzt jenes Kapitel, um die einjährige Pilotphase des Projektes auch und insbesondere dazu, den "bunten Haufen" der Mitarbeiter/innen ausführlich vorzustellen. Die Betonung liegt hier auf "ausführlich", denn die Personen sind es allemal wert, etwas genauer, bis sehr genau, unter die Lupe genommen zu werden. Dies sprengt einerseits gleich zu Beginn den Rahmen sämtlicher Erwartungen an einen Kriminalroman der üblichen Sorte, was andererseits für die Fans des österreichischen Autors keinesfalls eine Überraschung sein dürfte.
Lange haben sie warten müssen, denn seit "Sterben und sterben lassen" sind sieben Jahre vergangen. Den "Schäfer" wird man erst einmal vermissen, schnell lenken die aktuellen Charaktere aber von der Frage ab, wo er denn geblieben sein mag.
Natürlich gibt es auch einen Fall, der aber fast etwas in den Hintergrund gerät, dank der Lust des Autors, immer wieder die Hauptstraße zu verlassen, um sich in der Unzahl von Seiten- und Nebengassen regelrecht zu verlaufen. Das lenkt permanent ab, ist aber ungemein spannend, insbesondere wenn sich die Abzweigungen bis hin zu Rupert Sheldrakes morphogenetischen Feldern verzweigen. Dieser anspruchsvolle Zickzackkurs ist jedoch weitaus interessanter als die geradlinige A-Z-Erzählerei oder gar die angeblich prima lesbare Bestsellerpampe.
Zudem sind die handelnden Personen, insbesondere die weiblichen, einfach zu aufregend, als sie in einer zweifellos schwergewichtigen Story zu Randfiguren zu degradieren. Allen voran Philomena Schimmer, überzeugter Single und dem Vermehrungstrieb Entwachsene. Schließlich will sie "jenes epidemische Virus namens Menschheit" nicht zur weiteren Verbreitung begünstigen. Krass auch Kollegin Annika Nebun, "die irre Ika". Insgesamt beobachtet Georg Haderer seine Figuren peinlich genau. Ihm entgehen nicht einmal "mimische Mikroexpressionen".
Um was es in diesem Buch geht? Ja, das steht im Klappentext und soll hier nicht nachgeplappert werden. Tote Wissenschaftler/innen, Entführungen, geheime Projekte, zwielichtige Konzerne oder gar eine "unsichtbare Bedrohung" sind absolut (fast) nichts neues mehr. Ganz im Gegensatz zum unübersichtlichen Gebiet der Nanotechnologie, insbesondere jenen mikroskopisch kleinen "Robotern", auch Nanobots genannt.
Helena Sartori, eines von vier Mordopfern und ehemals Wissenschaftlerin bei NATHAN, einem Pharmakonzern, scheint das Unmögliche geschafft zu haben. Angeblich gelang es ihr, mittels einer Art "Origamitechnik" winzigste "Roboter aus DNA gefaltet" zu haben. Diese könnten sich dann Krebszellen vornehmen und ihnen den Garaus machen. Leider wird diesen Winzlingen mitunter unterstellt, sie könnten sich unter Umständen zu einer ungezügelten Selbstreplikation entschließen. Au weia. Ein unbezahlbares Sammelbildchen für Verschwörungstheoretiker und deren Alben für Weltuntergangsszenarien.
Was das jetzt mit dem Buch zu tun hat? "Seht ihr es nicht?" Ja dann hilft nur eines: Lesen und es selbst herausfinden. Es lohnt sich, und schließlich muss ja auch noch das Rätsel um die verschwundene elfjährige Tochter Satoris, die einzige Überlebende des Mordanschlags auf ihre Familie, gelöst werden.
Unterhaltsam, spannend und irgendwie lustig, auch wenn einem das Lachen streckenweise im Hals stecken bleibt. Achtung: Molekülgroße Roboter, die in diesem Fall helfend einschreiten könnten, stehen derzeit noch nicht zur Verfügung!
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