Ohnmachtspiele
von Georg Haderer
316 Seiten © 2010 Haymon Verlag Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at www.georghaderer.com ISBN 978-3-85218-630-6
Schäfer erwacht aus einem wunderbaren Traum. Die verbliebenen Fragmente erzählen ihm von einem See, umsäumt von Blumenwiesen und kleinen am am Himmel tanzenden Fallschirmen aus Löwenzahnsamen. Eben noch saß er unter einer Birke und knüpfte eine meterlange Halskette aus Gänseblümchen, ganz in sich versunken und geschützt von einer gigantischen Baumkrone. Es ist zu früh und die Sehnsucht nach einer Fortsetzung des Traumes treibt ihn zurück ins Bett unter die wärmende Decke. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte ...
Er würde zu spät zur Morgenbesprechung kommen, deshalb beschließt Major Schäfer, gar nicht erst hinzugehen. Vier Wochen war er jetzt im Krankenstand und in psychologischer Behandlung. Anfangs dachte er noch an ein Burn-out-Syndrom, das sich bald wieder verziehen würde, doch das Gegenteil war der Fall. Nach dem Vierfachmord in Kitzbühel ("Schäfers Qualen") war nichts mehr, wie es vorher war. Bei jedem Einsatz überkamen ihn Schwächegefühle, Unsicherheit, Angst und eine abgrundtiefe Verzweiflung. In seiner Ohnmacht wäre er gerne aus dieser traumatischen Isolationshaft mit unbekanntem Ziel geflohen. Seit Wochen isst er ohne Appetit und will nur noch seinem Körper etwas Gutes tun. Eine einsame Leere beschleicht ihn. Wie er ihn hasst, diesen schrecklichen Novemberwind und den nasskalten Nebel. Und wieso konnte er nichts gegen diese hoffnungslose Leere tun, diesen Schmerz, der einfach dazusein schien, ohne Grund und ohne sein Zutun?
Ob er sich einen anderen Beruf als Polizist hätte vorstellen können, fragte ihn sein Therapeut. Erstmals empfand er so etwas wie Vertrauen jenem Arzt gegenüber, als er seine Antwort "Kindergärtner" mit den Worten "Auf der einen Seite die reine Unschuld, auf der anderen Seite die deutlichste Form der Schuld, das Verbrechen" kommentierte. Vielleicht war es gar nicht nötig gewesen, sich so lange gegen diesen Besuch zu wehren, zumal Kollege Bergmann mit seinen Interventionen irgendwie ins Schwarze getroffen hatte ...
Schäfer findet eine merkwürdige Apparatur auf seinem Schreibtisch vor. Das Ding aus milchglasfarbenem Kunststoff hat mit einem halben Meter Höhe und Breite recht imposante Ausmaße. Bergmann definiert das Ding als Tageslichtlampe, die den jahreszeitlich bedingten Lichtmangel ausgleichen soll. Es soll die Produktion von irgendetwas anheben und als "Antidepressionslampe" die Stimmung nach oben fahren.
Die tote Frau beim Alberner Hafen ist blond, zierlich, dürfte knapp 50 Kilogramm wiegen und ist nicht größer als einen Meter fünfundsechzig. Dreißig bis vierzig Jahre alt, keine Papiere, Abschürfungen an Mund und Händen und nach einem Sexualverbrechen sieht es nicht aus. Ist sie einfach nur ertrunken? Gefunden wurde sie unweit jener Stelle, wo früher ein Strudel immer wieder Wasserleichen angeschwemmt hatte. Seit 1840 wurden fast 500 Opfer angespült und an Ort und Stelle verscharrt. 1900 wurde unter der Leitung des Bezirksvorstehers hinter dem Hochwasserdamm ein neuer Friedhof angelegt, der "Friedhof der Namenlosen". Weitere 104 angeschwemmte Leichen fanden hier ihre letzte Ruhe. Der Spuk war vorbei, als der Bau des Alberner Hafens die Strömungsverhältnisse änderte. Bis zu jenem Tag jedenfalls, als Sonja Ziermann, Lehrerin an einer Privatschule in Döbling, angeschwemmt wurde ...
Doch sie ist erst der Anfang in einer bitterbösen Geschichte um menschliche Abgründe. Auch Hauptdarsteller Schäfer stürzt von einem Abgrund in den anderen. Auf der einen Seite erlebt er die Opfer als Figuren in perversen Machtfantasien, entmenschlicht und ihrer individuellen Persönlichkeit beraubt, und auf der anderen Seite werden dringend notwendige Ermittlungsarbeiten durch Reformen im Polizeiapparat erschwert und geradezu blockiert. Langwierige Ermittlungen sind nicht mehr erwünscht, sondern nur noch schnelle Ergebnisse. Schäfer wehrt sich aber mit aller Kraft gegen das pure Abhaken von Fällen, und er findet auch Mittel und Wege, dies auf unkonventionellen Wegen durchzusetzen. Zusätzlich blockiert ihn seine eigene Problematik. Einmal mehr lernen wir ihn als zerbrechlichen Menschen kennen, dem Gefühle von "Ohnmacht", Resignation und Aggression nicht fremd sind. Er leidet unter der Einsamkeit in seiner bescheidenen Wohnung, hat Angst davor, die Augen zu schließen und in der Nacht wieder aufzuwachen. Doch die Suche nach Trost und die Fragen nach dem Warum und Wofür können letztlich nur durch neue Ziele gemindert und abgeschwächt werden. Lange genug jedenfalls hat es so funktioniert ....
Georg Haderer vermag mit seinem zweiten Kriminalroman die Qualität seines Debuts um ein Vielfaches zu übertreffen. Sein Szenario gestaltet sich ebenso spannend wie anspruchsvoll. Story und Figuren sind nicht von der Stange, und schon deshalb verlangen sie ungeteilte Aufmerksamkeit des Lesers. Der Roman wächst mit jeder einzelnen Seite, wobei der Spannungsbogen mühelos folgen kann und zu keiner Zeit abreißt. Nach dem in mehrerlei Hinsicht gänzlich unerwarteten Ende hat man die Gewissheit, einen der besten Kriminalromane unserer Zeit gelesen zu haben. Ich möchte sogar noch einen Schritt weitergehen und so unverschämt sein, meinem Bedauern dahingehend Ausdruck zu verleihen, dass nicht schon ein dritter Band greifbar ist. Vielleicht sollte der Schäfer den Haderer rasch einfach festnehmen und wegsperren, damit das etwas rascher voran geht ...
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