Literatur

Kerkerkind


von Katja Bohnet


336 Seiten
© 2018 Knaur Verlag
www.knaur.de
ISBN 978-3-426-52093-2



Thriller gibt es wie Sand am Meer. Dieser gehört nicht dazu. "Kerkerkind" ist nichts zum "runterlesen". Kein Plot von der Stange, angereichert mit leblosen Statisten, die in einer mühsam zusammengeschusterten Story gelegentlich agieren, doch letztlich nur herumlungern, bis die Leserschaft mit einem "gnadenlosen" Finale endlich geweckt, dann aber endgültig in den Schlaf geschrieben wird.

Der aktuelle Kriminalroman von Katja Bohnet stellt etwas ganz anderes mit uns an. Mit knappen Worten knallt sie uns einen Prolog vor das geistige Auge. Kurze Sätze. Präzise und emotionslos. Wir sehen das, was geschieht, und wir fühlen es. Es ist unangenehm, aber es bewegt uns ...

Szenenwechsel. LKA Berlin. Viktor Saizew ist zurück. Rosa Lopez begleitet ihn. Ihren Rat, sich überrascht zu zeigen, versteht er zunächst nicht. Damals in Rom, beim Einmarsch der Gladiatoren, mag es ähnlich gewesen sein. Die Kollegen stürmen aus ihren Büros. Seine Rückkehr gleicht einem Triumphzug. Ein Transparent, der ihn mit einer Filmfigur, gespielt von einem österreichischen Haudegen, vergleicht, unterstreicht deren Begeisterung.

Rosa und Viktor stecken jedoch bereits wieder bis über beide Ohren in einem aktuellen Fall (welchen der Klappentext leider, und wie so oft auch im Detail, verrät), so dass wenig Zeit zum Feiern bleibt. Auch privat deuten sich schon zu Beginn Komplikationen an, doch zu jenem Zeitpunkt ahnen beide das ganze Ausmaß dessen nicht, was da noch auf sie zukommen wird ...

Starker Tobak. Katja Bohnet meint es ernst. Nicht nur, was die abgründige Handlung und die gleichermaßen düstere Gesamtstimmung betrifft, sondern auch und im Besonderen die Befindlichkeiten ihrer Protagonisten, die an vorderster Front zu kämpfen verdammt sind und mit der Ambivalenz ihrer jeweiligen Lebenskonzepte hadern. Dabei bilden Rosas Schwangerschaft und Viktors Zustand nach einer Gehirnoperation nur die Spitze des Eisbergs, denn es tun sich auch im ganz privaten Kreis wieder enorme Abgründe auf.

Ihrem chaotischen, aber glaubwürdigen Team aus zwei Einzelkämpfern stellt sie Gunnar, den Leiter der Mordkommission, und Innensenator Henning Groß als hübschen Kontrast gegenüber. Die beiden Schlipsträger spiegeln, jeder auf seine Art, als fulminante Spaßbremsen und Pragmatiker die Misere der verschiedenen Entscheidungsebenen sowie die vorgezeichneten Handlungskorridore.

Die eigentliche Attraktion bleiben aber Rosa Lopez, Viktor Saizew und deren Familien, die sich zum Teil auf ebenso weitläufigem wie bröckelndem Fundament befinden. Hierzu schüttelt die Autorin aus ihrem Schatzkästlein des vehementen Ausdrucks wahre Perlen aus dem Ärmel. Beispielsweise zum Thema Tod und jener Art Humor, der sich allem Ernst widersetzt, "bis Trauer ihn erstickt". "Die Unerträglichkeit des Moments" trifft ebenso wie die Unfähigkeit, etwas mit dem Begriff Realität anfangen zu können.

Oder Beschreibungen eines Tagwerks, welches sich im Allgemeinen damit beschäftigt, "die kläglichen Überreste von Wahrheit aus der Lügensuppe des Lebens zu destillieren". Großartig auch vermeintliche Nebensächlichkeiten wie prasselnder Regen auf Dach und Windschutzscheibe eines Autos, welcher sich wie ein "Trommelwirbel" anhört - "Der Auftakt zu etwas Größerem."

Stark überzeichnet hingegen sind die Modalitäten einer "Performance-Künstlerin", die in ihren Darbietungen ein paar Schritte zu weit geht ... auch wenn sie dafür eine "Genehmigung" besitzt. Zudem fragt man sich, was die hochschwangere Rosa nun noch alles zu ertragen in der Lage sein soll ...

Es gibt sie noch. Wünsche, die in Erfüllung gehen. Erträumte sich der Rezensent Anfang 2016 noch "Messertanz" als einen Einstieg in eine Serie, liegt nun mit Kerkerkind tatsächlich der zweite Band um das unkonventionelle Ermittlerteam Rosa Lopez und Viktor Saizew vor. Ob es eine "lange" Serie werden wird, bleibt abzuwarten, wäre aber aus einer ganzen Vielzahl von Gründen mehr als wünschenswert.

Auch in "Kerkerkind" ist die Atmosphäre derart dicht, dass es Leserinnen und Leser einerseits an die Lektüre fesselt, andererseits die Phantasie auf- und anheizt und schon mal über sich selbst hinauswachsen lässt. Es mag unverschämt und respektlos erscheinen, gleich wieder nach einer Fortsetzung zu schreien, doch wäre jene allein durch die Weiterentwicklung der beiden Hauptfiguren zu rechtfertigen. Rosas und Viktors Zukunft. Prinzipiell sind die beiden schon Story genug.

Wie auch immer. Das ist kein Kriminalroman. Das ist ein Bohnet!

 

Thomas Lawall - April 2018

 

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