Literatur

Innere Werte

von Kerstin Hamann


448 Seiten
© Sutton Verlag, 2012
www.sutton-belletristik.de
www.kerstinhamann.de
ISBN 978-3-86680-977-2



... und um nahtlos an meiner Rezension zum Vorgänger "Abgehakt" anzuknüpfen, muss ich gleich zu Beginn anmerken, dass sich meine (vielleicht zu hohen) Erwartungen leider nicht erfüllt haben. Das Debut von Kerstin Hamann ist von einer ganz anderen Qualität, was sowohl die Story als auch und insbesondere den Schreibstil betrifft. Da nützt auch der gut 100 Seiten größere Umfang ihres zweiten Wiesbaden-Krimi nichts, wobei die Medaille dennoch (mindestens) zwei Seiten hat ...

Vier motorbetriebene Schneckenpumpen gibt es im Pumpwerk der Wiesbadener Kläranlage. Das durch die Förderschnecken nach oben beförderte Wasser durchläuft anschließend im freien Fall die verschiedenen mechanischen und biologischen Reinigungsstufen. Sie bewältigen täglich bis zu 50 Millionen Liter Abwasser, was in einer Sekunde etwa 1000 Liter entspricht. Die Lebensdauer dieser Pumpen ist gewaltig und sie sind nahezu wartungsfrei. Der Durchlass von größeren Feststoffen ist, bedingt durch große Gangweiten und der offenen Bauweise, kein Problem. Es muss schon etwas ganz Großes kommen, um die 15 Tonnen schweren Schnecken zu blockieren und die Pumpen somit zu einer automatischen Abschaltung zwingen.

Deshalb ist es auch Georgia Galanis ein absolutes Rätsel, weshalb die massiven Maschinen durch eine Leiche blockiert wurden. Die Sachgebietsleiterin findet für die Abschaltung insofern keine Begründung, als die Förderschnecken mit Knochen im Prinzip keine Probleme haben dürften. Den Körper hätte es ebenso unentdeckt wie ungehindert durchziehen müssen. Sie und ihre Mitarbeiter stehen vor einem Rätsel, Kriminalhauptkommissar Martin Sandor und seine Kollegen ebenfalls. Die weiteren Ermittlungen gestalten sich schwierig. Da könnte es hilfreich sein, dass noch jemand auf eigene Rechnung parallel ermittelt ...

Mit der Sprache habe ich diesmal Probleme. Stellenweise ist sie nun wirklich zu einfach gestrickt und mit flachen Allgemeinplätzen belastet. Martin Sandor kommt nach Hause. Es riecht nach Weihnachtsgebäck: "Ein wunderbares Gefühl machte sich in ihm breit ..."

Der Obduktionsbericht einer Leiche kommt im Gegensatz zu ihrem katastrophalen Zustand eher sachlich nüchtern und die Reaktionen und Empfindungen von allen Beteiligten wirken seltsam gekünstelt. "Was für eine grauenhafte Vorstellung" und der Bericht sorgt für einen "ganz schönen Wirbel" ...

Personenbeschreibungen, wie z.B. die der Freundin des Opfers sind ohne Tiefe und bleiben mit Formulierungen wie "... naturbelassenen Augenbrauen über den großen, bernsteinfarbenen Augen, wurde von schulterlangen, braunen Haaren eingerahmt" stets an der Oberfläche. Emotionen, soweit vorhanden, wirken allesamt aufgesetzt.

Geradezu peinlich sind die Erwägungen eines Kollegen, der bei einem "netten Gespräch" zu der "Einsicht" kommt, "dass auch Powerfrauen eine beachtenswerte Gattung der weiblichen Art waren." Ist das zu fassen ...?

An anderer Stelle macht sich dann mal zur Abwechslung die Sehnsucht breit und auf Seite 96 hatte ich erstmals Lust, die Lektüre aufzugeben. Nach dem vergeblichen Versuch, ihren Mann (der offenbar ein Verhältnis mit einer anderen hat), den Chef der Humboldt-Klinik, direkt an seinem Arbeitsplatz zu verführen, lässt sich Susanne "traurig auf den Boden nieder". Doch zum Glück kommt ein Assistenzarzt vorbei. "Ihre Tränen hatten schwarze Mascaraspuren auf ihre Wangen gezeichnet und ihr Blick glich dem eines verletzten Rehs." Er nimmt sich ihrer an. "Steffen ist so kalt mit mir." Assistenzarzt Theo fühlt mit ihr ... und gleich wird er mit ihr schlafen. Entschuldigung, aber aus welchem Groschenroman stammt diese Szene?

Den Bock geschossen hat die Autorin aber auf Seite 276-277, indem sie Assistenzarzt Theo einige haarsträubende Aussagen über Pflegefamilien und deren Pflegekinder formulieren lässt. Solche Kinder also, "die den Erwachsenen nicht so ans Herz gewachsen sind". Auch die weiteren verbalen Entgleisungen scheinen die Grenze der Fiktion zu überschreiten, indem sie verallgemeinern, und man kann nur hoffen, hier nicht persönliche Ansichten der Autorin zu streifen. Im weiteren Verlauf kommt Theo von den angeblichen Motiven der Pflegeeltern hin zu dem, zu was sie, im Rahmen der nun wirklich fiktiven Handlung, fähig sind. Erbärmlich ist es trotzdem und genau an dieser Stelle driftet die Story ins Absurde!

Trotz aller Kritik muss ich aber zugeben, dass ich es zu keinem Zeitpunkt geschafft hätte, den Roman wirklich abzubrechen, denn dazu ist die Geschichte einfach zu spannend. Und es gibt noch weitere Pluspunkte hervorzuheben, die sich auf die Recherche sowohl im technischen wie medizinischen Bereich beziehen. Hier hat die Autorin aus meiner Sicht ganze Arbeit geleistet, was sich bereits in der exakten Funktionsbeschreibung des Pumpwerks in der genannten Kläranlage andeutet.

Auch für die Beschreibung bestimmter Ermittlungsmethoden nimmt sich die Autorin sehr viel Zeit. Und hier liegen die eindeutigen Stärken des Romans. Auch das Thema Spurensicherung gestaltet sich höchst interessant, denn von einer Reifenspur bis zur Ermittlung des betreffenden Fahrzeugs ist ein weiter Weg! Und wenn es um Kunststofffibrillen geht, die aus mittels Naphta-Crackung gewonnenem Isopren hergestellt werden, wird es insofern richtig interessant, da die Autorin auch dieses "Fachchinesisch" auf verständliche Weise zu übersetzen weiß.

Eine (un)anständige Portion Erotik rundet "Innere Werte" ab und nicht zuletzt muss noch der reichlich bodenständige Humor der Autorin erwähnt werden. Auf eine unnachahmliche Weise versteht es Kerstin Hamann, den einen oder anderen Kalauer punktgenau zu platzieren. Ich sage nur: "Tussi-Toaster"! Eine, an nicht wenigen Stellen völlig unerwartete, Situationskomik trägt ebenfalls dazu bei, das Gesamtbild etwas zu relativieren ... womit der Titel in diesem Zusammenhang in durchaus mehrfacher Auslegung zu verstehen ist.

 

Thomas Lawall - Juni 2012

 

 

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