Abgehakt
von Kerstin Hamann
336 Seiten © Sutton Verlag, 2010 www.sutton-belletristik.de www.kerstinhamann.de ISBN 978-3-86680-636-8
Brigitte Kling lässt einen Hauch von Tatverdacht in ihre Richtung wehen, doch die Beweislage ist für den Moment mehr als dürftig. Die Nachbarin des Mordopfers Marita Janz hat nichts Gutes über die Ermordete zu berichten. Jeder Mensch würde bekommen, was er verdient. Kommissar Martin Sandor ist einigermaßen schockiert, versucht jedoch ganz im Sinne der Ermittlung einen kühlen Kopf zu bewahren. Dennoch fällt es ihm schwer, die Sachebene angesichts der dreisten Ausführungen von Frau Kling, nicht zu verlassen. Marita Janz wäre ein "unverschämtes, junges Ding" gewesen, die stets nur ihre eigenen Belange in den Vordergrund stellte. Absolut unsympathisch und ohne jedes Niveau. Gegrüßt hätte sie nur, wenn sie Lust dazu gehabt hätte, und überhaupt wäre ihre ganze Erscheinung eine einzige Provokation gewesen. Sandors Assistent Paul Fischer ist ebenfalls entsetzt und stimmt mit seinem Chef insofern überein, dass sie diese Dame bestimmt nicht zum letzten Mal besucht haben. Diese Vermutung soll sich als absolut richtig erweisen ...
Zehn Parteien gibt es im Haus und jene Mieter, die zu Hause waren, haben längst geschlafen oder von den schrecklichen Vorfällen nichts mitbekommen. Ausnahme war Frau Kling, die sich gegen drei Uhr noch die Wiederholung einer Comedy-Show ansah. Gegen 3.30 Uhr öffnete sie ein Fenster und sah einen Körper im Hinterhof liegen. Sie eilte hinunter, erkannte ihre Nachbarin Marita, die ganz offenbar tot war, und verständigte umgehend die Polizei.
Bereits auf der ersten Seite des Kriminalromans erfahren wir, dass es sich bei dem Mörder um eine Frau handelt. Dieses Wissen besitzt Kommissar Sandor natürlich nicht, was uns in eine interessante Beobachterposition versetzt. Schnell wird ihm allerdings klar, dass der "Mörder" offenbar nach einem bestimmten Schema vorgeht. Marita Janz ist nicht das erste Opfer. Die Umstände deuten auf einen Zusammenhang hin. Sie starb an einem Genickbruch, den der Sturz aus dem sechsten Stock verursachte.
Zuvor wurde ihr der Mund mit Klebeband zugeklebt. Mit dem gleichen Band wurden ihr die Hände auf dem Rücken sowie die Füße zusammengebunden. Die Mörderin drehte die völlig Unbekleidete auf den Rücken und ritzte ihr mit einem Fleischermesser einen Haken unter die Brust. Ganz offenbar wollte sie ihre Tat damit in irgendeiner Weise "abhaken". An dieser Wunde starb ihr Opfer nicht, was durchaus so geplant war. Sie öffnete ein Fenster, atmete die wohltuende Nachtluft ein und setzte ihr Opfer auf die Fensterbank. "Ein bisschen frische Luft wird auch dir guttun, nach dem Schrecken, den ich dir eingejagt habe." Marita lässt sich tatsächlich von dem zynischen Monolog täuschen und reagiert erleichtert, da sie nun glaubt, alles überstanden zu haben. Dies waren aber ihre letzten Gedanken, denn von einem heftigen Schlag getroffen, fiel sie kurz darauf rückwärts in die Tiefe ...
Sehr bald kann Sandor die aktuellen Ereignisse mit zwei zurückliegende Fälle kombinieren. Man hatte die Opfer in den Mordsachen Schnitzler und Benning ebenfalls mit diesem Zeichen auf der Brust gekennzeichnet. Beim ersten Mord genügte es dem Täter noch, das Zeichen mit dem Blut der Frau aufzumalen. Beim zweiten Mord benutzte "er" ein Messer.
Was Sandor nicht weiß ist, dass die Mörderin inzwischen auch die Fotos von Marita "abgehakt" hat. Sie hängen bei der Täterin zu Hause an der Wand, versteckt hinter jenem Bild, das auch die Fotos der anderen Opfer verdeckt. Bald werden dort weitere Fotos hängen, bei welchen die roten Haken noch fehlen. Bis dahin wird aber noch etwas Zeit vergehen, denn erst muss der "Zufall" zwei völlig unabhängige Handlungsebenen zusammenführen ...
Ein wenig atemlos wird man schon beim Lesen dieses Krimis um Kommissar Sandor und um Hessens Landeshauptstadt Wiesbaden. Kerstin Hamann versteht es wunderbar, raffinierte Erzählstrukturen mit außerordentlich unterhaltsamen Elementen zu verbinden. So wie es sich gehört, legt sie auch eine ganze Reihe falsche Fährten aus, gegen die nicht einmal ihre ermittelnde Hauptfigur immun zu sein scheint. Hierbei versteht sie es, Leserinnen und Leser regelrecht - ähnlich wie das erste Opfer gleich zu Beginn, jedoch mit einer Art unsichtbarem Klebeband - an ihren Wiesbaden-Krimi "Abgehakt" zu fesseln. Die gut 300 Seiten vergehen wie im Flug und das völlig unerwartete Ende setzt dem Ganzen dann die Krone auf! Donnerwetter! Und nach diesem ebenso aufregenden wie überzeugenden Krimi-Debut bin ich sehr auf Kerstin Hamanns zweiten Roman gespannt ...
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