Literatur

In Extremis

von Tim Parks


432 Seiten
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2018
© der Originalausgabe: Harvill Secker, London 2017
www.kunstmann.de
ISBN 978-3-95614-252-9



150 Seiten dauert es, bis der Linguist Thomas Sanders endlich am Sterbebett seiner Mutter angekommen ist. Seit ihn die E-Mail seiner Schwester erreicht hat, sind zehn Stunden vergangen. Man sollte nicht meinen, dass in jener kurzen Zeit viel passieren sollte, doch Tim Parks weiß diese Vermutung schnell zu widerlegen.

Wobei "schnell" hier unpassend ist, denn was tatsächlich geschieht, zieht sich gewaltig in die Länge. Gleich zu Beginn erfahren wir von einem Unterleibsleiden, welches Sanders seit Jahren quält, und sich nur mit Mühen unter Kontrolle halten lässt. Ein Gespräch mit einem portugiesischen Kinderarzt ändert dies aber ungewollt rasch. Sanders lässt sich zu einer ebenso spontanen wie unkonventionellen Behandlung überreden. Eigentlich hat er als Gastredner bei einem Physiologenkongress in den Niederlanden andere Dinge zu tun ...

Da wären aber noch andere Probleme
. Ohne Wissen seiner Mutter hat er sich bereits vor zwei Jahren von seiner Frau getrennt, da er sich in eine dreißig Jahre jüngere Frau verliebt hat, beziehungsweise und insbesondere, wobei, so dass, während, abgesehen von, vielmehr, bezüglich, obwohl, vermutlich, usw. usf. er sich nicht einmal sicher ist, ob es wirklich so ist. Einerseits wird er von Gefühlen überwältigt, andererseits wieder "muss er sich daran erinnern, dass er glücklich ist".

Mutter ist ein allgegenwärtiges Thema. Wie soll er ihr das nur beibringen, ohne ihr christliches Weltbild ins Wanken zu bringen? Fast kann er an nichts anderes mehr denken. Hinzu kommen noch die Probleme von Freunden, die ebenfalls auf ihm lasten, sowie die permanenten Toilettengänge, über die Leserinnen und Leser ausführlichst informiert werden, wobei in den allgemeinen Erörterungen sogar das genaue Urinvolumen, insbesondere in Verbindung mit Stuhlgang, abgehandelt wird.

Nebenbei telefoniert man eifrig, unterhält sich mit einem Facharzt, packt dessen ominöses medizinisches Gerät ein, erlebt eine Posse bei einer Kontrolle im Flughafen, fliegt nach England, fährt mit Zug und Taxi, sucht das Hospiz, in welchem die Mutter untergebracht ist, wird von der Freundin aus Spanien auf den rechten Weg geleitet, geht mit Schwester und Mann gemütlich zum Inder und steht dann endlich vor dem Bett der Mutter ... aber erst dann, wenn das damit zusammenhängende "Dilemma" immer und immer wieder neu aufgefrischt und umgerührt wird.

Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch mit einer bitteren Erkenntnis behaftet, denn man hat das Buch erst zur Hälfte geschafft! Es ist schön, mal wieder etwas Anspruchsvolles zu lesen, zumal Tim Parks hier, im Gegensatz zu "Thomas & Mary", erweiterte Vorzeichen setzt. Natürlich dreht es sich auch in "In Extremis" um ein Beziehungsdrama, doch nicht ausschließlich. Der Autor zieht hier alle verfügbaren Register.

Auch wenn es anstrengend sein mag, an schier jedem einzelnen Gedankengang des Linguisten Sanders teilnehmen zu müssen, hat das Buch auch seine ganz großen Seiten. Sterben und Tod, Familie und Beziehungen, Eifersucht und Lebensfragen sind allgegenwärtig. Grandios wird es immer, wenn Tim Parks Sätze kürzer werden und er Details ins Visier nimmt. Dann haben standhafte Atheisten und notorische Selbstzweifler Grund zum Feiern.

Und ergriffene Rezensenten, die es nicht lassen können, sich besonders ausdrucksstarke Passagen auf einen "Beipackzettel" zu notieren, ebenso. Es kann das Philosophieren zwischen Himmel und Hölle sein, das armselige Sterben zwischen Tagungen, existenzielle Hürdenläufe und überhaupt die ganzen Gebirge eigener Sorgen, oder schlicht "Meere der Angst" oder "versunkene Kolosse der Schuld". Herrlich, wenn man sich nebenbei auf einer Linguistentagung Gedanken über "verschwundene Personalpronomen" macht, oder über "die komparative Hilfsverbverteilung in den germanischen und romanischen Sprachen" spricht.

Dass nicht alles so ernst gemeint ist, wie es sich manchmal anhört, kommt allerdings erschwerend hinzu. Der Autor scheint sich insgesamt leicht zu verzetteln, denn die Leserschaft darf sich, insbesondere vor dem Hintergrund der Entscheidungsschwäche des Hauptakteurs, fragen, was denn nun ernst gemeint ist oder nicht oder weshalb dieses oder jenes zum tausendsten Mal hin und her erwogen werden muss. Letztlich muss aber eingesehen werden, dass "eine automatische Intensivierung der schützenden Verzückung" einer "tröstlichen Atmosphäre der Zeitlosigkeit" vielleicht, und insgeheim auch, nicht ganz unähnlich ist.

Fazit: Etwas kantig in seiner Gesamtheit, jedoch nicht ohne Faszination im Abgang. Psychosomatische Unterleibsproblematik in Fusion mit christlich geprägter Konditionierung kontra freie Lebensplanung. "Dass es eine Liebe gebe."

 

Thomas Lawall - Februar 2019

 

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum