Literatur

Thomas & Mary


von Tim Parks


336 Seiten
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2017
© der Originalausgabe: Harvill Secker, London 2016
www.kunstmann.de
ISBN 978-3-95614-164-5



Es kriselt bei Thomas und Mary. Thomas wollte den Hund nicht, und doch ist "Ricky" jetzt da. Seine Präsenz scheint den maroden Zustand ihrer Ehe weiter zu verschlechtern. Nicht einmal nachts hat man mehr seine Ruhe. Zuerst mogelte er sich zum Schlafen in das Zimmer ihres vierzehnjährigen Sohnes Mark. Schließlich gewährte Mary Ricky den Zutritt ins eheliche Schlafzimmer. Das ist zu viel für Thomas, weshalb er jetzt im Zimmer seiner achtzehnjährigen Tochter Sally schläft, die bereits das heimische Nest verlassen hat.

Niemand konnte das Drama, lange vor dessen Beginn, besser voraussagen als Marys Mutter. Als Mary ihn ihr damals vorstellte, ließ ihre Begeisterung einiges zu wünschen übrig. Ihre erste Reaktion war niederschmetternd, denn sie prophezeite ihrer Tochter, dass sie diesen Knaben zum Frühstück verspeisen würde, um ihn "noch vor dem Mittagessen wieder auszuspucken". Leider waren das nicht die einzigen "unheilvollen Vorzeichen". Die merkwürdige Andeutung eines Passanten und ein "astrologisches Liebeslexikon" geben dem Paar, zumindest im Nachhinein gesehen, ebenfalls Anlass zum Nachdenken.

Der Eindruck des Beziehungsdramas gestaltet sich zwiespältig. Einerseits wirken die Alltagsszenen und die Befindlichkeiten der Hauptpersonen seltsam statisch und allzu künstlich. Wie aus dem Stegreif konstruiert. Es fehlt an vielen Stellen eine glaubwürdige Dramatik. Der Autor verstrickt sich leicht in Nebensächlichkeiten und Definitionen.

Beispielsweise wird versucht zu ergründen, warum man mit seinem Bruder nie skypt, sondern nur mailt, und wieso man mit seiner Schwester hingegen telefoniert, aber nie mailt. Ähnlich das überdehnte Frage- und Antwortspiel bezüglich alten und ehemaligen Freunden. Hätte man dieses oder jenes tun und denken können, wenn man gewusst hätte, was die anderen wirklich tun und gedacht haben?

Trotz allerlei langatmiger Erwägungen und Theoretisierungen heißt dies aber nicht, dass Tim Parks das wahre Leben niemals treffen würde. Die großen Momente entstehen, wenn der Autor die Dinge nüchtern betrachtet. Beispiel Familienessen. Stumm sitzt man da, während die Kinder das Essen in sich hineinschaufeln und gelegentlich wird die Qualität der Mahlzeit gelobt. Mehr Dialog ist aber nicht erlaubt, denn "jenseits solcher Bemerkungen lauerte der Abgrund".

Interessante Kunstgriffe sind Wechsel in der Erzählperspektive. Gelegentlich verschwindet der imaginäre Erzähler und wir erleben die Geschichte, beispielsweise aus Thomas' Sicht oder dessen Geliebter Cathy, in der Ich-Form. Mit fast analytischer Akribie legt Tim Parks somit Beziehungsgeflechte noch genauer frei. Das selten oder nie Ausgesprochene wird in seinen Strukturen sichtbar und erschreckt in seiner fast selbstverständlichen Zwangsläufigkeit.

Der Autor seziert eine dreißig Jahre bestehende Ehe in ihre Bestandteile und erlaubt sich den Luxus, Gedanken, Ideen, Fragen und deren Konsequenzen auf mehreren Ebenen zu Ende zu denken. Insbesondere jene literarische Konstruktion auf jenem "Nebenschauplatz", der weit über ein Ende hinausgeht und bekannte Dimensionen sprengt ...
 
Ganz großes Kino entsteht, wenn Thomas in seine geräumige Garage fährt und wie im Traum die darin enthaltenen Gegenstände betrachtet, und diese in Zusammenhang mit den jeweiligen Lebensstationen setzt. Die automatische Beleuchtung schaltet ab, und jetzt "könnte er ein etruskischer Prinz sein, einbalsamiert auf seinem Totenschiff". Auch den Tod von Thomas' Mutter schildert der Autor in fast unerträglicher Eindringlichkeit.

Tim Parks konserviert Stimmungen, die Leserinnen und Lesern bekannt vorkommen werden. Seine allesamt erfundenen Protagonisten bewegen sich in Situationen, die wiederum keineswegs der Phantasie entstammen. Der Wiedererkennungswert ist hoch und dürfte den einen oder anderen leicht beunruhigen. Insofern ist das Buch vielleicht unbequem, was wiederum keineswegs bedeutet, dass man es nicht unbedingt gelesen haben muss.

 

Thomas Lawall - September 2017

 

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