Das Kartell
von Don Winslow
832 Seiten © 2015 Don Winslow © der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag www.droemer.de ISBN 978-3-426-30429-7
Vergeblich versuchten die amerikanischen Ankläger den Boss der Bosse "umzudrehen", ihn zum Informanten umzupolen. Der einst mächtigste Drogenboss der Welt blieb eisern, denn zu einem Verräter, "die niederste Kreatur auf Erden", wollte er nicht werden. Er, der einst an oberster Stelle der mexikanischen Drogenkartelle stand, sie vereinte und an entscheidenden Fäden zog, die bis weit in Politik und Wirtschaft reichten.
Auch nach einem Jahr Untersuchungshaft im Bundesgefängnis von San Diego dauern die Prozessvorbereitungen an. Die Aussichten sind eher düster, denn selbst die günstigste Haftstrafe dürfte sich auf dreißig Jahre belaufen, wobei eine Verurteilung zu mehrfach lebenslänglich wahrscheinlicher wäre.
Doch der Tod von Adán Barreras Tochter Gloria, welche seit ihrer Geburt an einem zystischen Lymphangiom litt, bringt Bewegung in seine scheinbar festgelegten Zukunftsaussichten. Er will unter allen Umständen der Beerdigung beiwohnen. Barreras Anwalt Ben Tompkins soll es "möglich machen". Bundesanwalt Bob Gibson stellt sich zunächst stur und lehnt jedes Gesuch in diese Richtung ab.
Barrera aber gibt nicht auf und zaubert ein Ass aus dem Ärmel. Wenn er an Glorias Beerdigung teilnehmen darf, will er auspacken. Auch die verzweifelten Versuche seines Anwalts, ihn davon abzubringen, sein eigenes Todesurteil auszusprechen, können ihn nicht davon abhalten. All das, was sie schon immer hören wollten, will er jetzt preisgeben. Barrera besteht auf diesem Deal.
Und er geht noch weiter. Nach der Bestattung sitzt er mit Staatsanwälten und Beamten der DEA zusammen und lässt die Bombe platzen, indem er den Aufenthaltsort von Hugo Garza, der nach der Zerschlagung von Adáns "Federación" das Golfkartell zum mächtigsten in ganz Mexiko ausbaute, verrät. Ebenso wenig rechnete man mit dem nächsten Angebot Barreras, der als Gegenleistung nach Mexiko ausgeliefert werden möchte, um dort den Rest seiner Strafe abzusitzen.
Die Anzahl seiner Feinde dort könnte nicht größer sein. Dennoch will Adán das Risiko eingehen. Lieber umgebracht werden, als in einer Zelle langsam zu verrotten. Garza wird verhaftet und die Auslieferung folgt auf dem Fuß. Zunächst wiegt sich Adán Barrera im Gefängnis Puente Grande am Stadtrand von Guadalajara in Sicherheit. Alte Strukturen funktionieren immer noch und er genießt alle Privilegien ...
Don Winslow gewährt den einen oder anderen Rückblick in jene Tage, in der die Geschichte einst begann. "Tage der Toten" zu lesen, ist zum Verständnis der aktuellen Fortsetzung also nicht zwingend notwendig. Wer jedoch zum Beginn der Freundschaft zwischen Adán Barrera, damals 19jährig und Rechnungswesen studierend, und Art Keller, dem amerikanischen Drogenfahnder, genaueres erfahren und überhaupt die ganze damalige Stimmung erfassen möchte, wird es sich überlegen müssen.
Es war eine andere Zeit und eine andere Welt. Barrera war zudem noch Boxveranstalter und hätte sich niemals vorstellen können, bei seinem Onkel Miguel Ángel "Tio" Barrera einzusteigen, der ein Doppelleben als Opiumproduzent und als Polizeipräsident der Provinz Sinaloa führte. Dieser spielte ein böses Spiel mit Art, indem er ihn und seine Mitstreiter dazu benutzte, seine Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.
30 Jahre dauerte der Kampf gegen das organisierte Verbrechen an und alle Versuche, die Verantwortlichen zu stoppen, sind misslungen. Tötet man einen Anführer, steht entsprechender Ersatz sofort bereit. Art Keller taucht ab, bis ihn die aktuellen Ereignisse einholen. Adán Barrera kehrt zurück und erhebt Anspruch auf die Krone, die er einst getragen hat. Doch das ist nicht so einfach und braucht eine Vorbereitungszeit und Planung, die sich über Jahre zieht.
Don Winslow zieht in "Das Kartell" alle Register und lässt den Vorgänger wie einen überdimensionierten Prolog aussehen. Nach der Zerschlagung der "El Federación" 2004 werden jetzt die Karten neu gemischt, und dies geschieht in einer neuen Dimension der Härte. Die Schauplätze des neu entfachten Drogenkrieges, der, (seit der Wahl des mexikanischen Präsidenten Felipe Calderón, welcher den Kampf gegen die Kartelle offiziell 2006 aufnahm) bis heute tobt, ziehen sich von Mexiko über die USA bis nach Europa, wobei der Autor allergrößten Wert auch und besonders auf die ausführliche Charakterisierung jener Menschen legt, die hinter den unterschiedlichen Positionen für ihre jeweilige Sache stehen.
Wenn auch die erbitterte Feindschaft der einstmaligen Freunde Art und Adán im Mittelpunkt zu stehen scheint, sowie die moralische Fragestellung, ob es dem prominenten Drogenfahnder um Gerechtigkeit oder Rache gehen mag, dreht es sich insgesamt dennoch um das große Ganze, ein schier undurchsichtiges System von Korruption und Macht, das Don Winslow in all seinen Facetten, gnadenlos realistisch, zu einem monströsen Werk verdichtet hat.
|