Cryptanus - Der Geruch des Todes
von Wolfgang Brunner
350 Seiten © Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle 2009 www.projekte-verlag.de www.wolfgangbrunner.de ISBN 978-3-86634-771-7
Er ist keiner von uns. Trotzdem möchte er uns eine Geschichte erzählen:
Philip Goldman blickt auf sein bisheriges Leben zurück und er wird traurig, denn umgehend tanzt der Tod auf die Bühne, um für ihn ganz allein ein Konzert zu geben. Der Tod weiß, dass Goldman sein größter Fan ist. Noch ahnen wir nicht, weshalb das so ist, aber sehr bald wird sich das ändern. Sobald wir seinen Gedanken folgen können, werden wir wissen, weshalb er den Tod einem glücklichen Leben vorzieht ...
Es beginnt 1987. Philip Goldman ist 22 Jahre alt. Er hat ein Auge auf Helena Nikitakis geworfen, die Tochter einer griechischen Gastarbeiterfamilie, die schon seit Jahrzehnten in der unmittelbaren Nachbarschaft wohnt. Zunächst unsicher, ob er nicht doch "an das andere Ufer geschwemmt worden war", verliebt er sich in das Mädchen und gesteht sich seine Heterosexualität ein. Ein Problem hätte er nicht wirklich gehabt, wenn es bei seinen anfänglichen Vermutungen geblieben wäre, aber so ist es ihm irgendwie doch lieber. Leider werden seine aufkeimenden Gefühlswelten durch eine andere empfindlich gestört ...
Mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder David ist er nachts unterwegs zu jener Stelle am Fluss, wo sie vor einigen Wochen einen BH und einen Slip gefunden hatten. Stundenlang saßen sie in der Kälte und grübelten über die näheren Umstände, die zum Verlust der Kleidungsstücke geführt haben könnten. Doch heute stimmt etwas nicht. Zuerst ist es nur ein schwaches Aroma, das vielleicht von einer Mülltonne stammen könnte. Doch es war keine in der Nähe. Die ungewöhnliche Geruchsempfindung steigert und präzisiert sich. Es riecht eindeutig nach Lakritze und verbrannten Autoreifen. Philip ist sich absolut sicher, dass der Geruch seinen Ursprung bei David hat. Dieser bemerkt aber von alledem nichts und reagiert recht ungehalten, als er von seinem Bruder auf den merkwürdigen Gestank hingewiesen wird. Die Ereignisse überschlagen sich, als David plötzlich verschwunden ist. Philip kommt zu der Überzeugung, dass er in den Fluss gestürzt ist und springt in die eiskalten Fluten. Es ist Winter, die Luft bleibt ihm weg und er hat das Gefühl, sein Herz hätte für ein paar Sekunden ausgesetzt. Tatsächlich sieht er einen Haarschopf und eine Hand in den reißenden Fluten und schließlich bekommt er David tatsächlich zu fassen. Nie gekannte Panik ergeift ihn und er zieht seinen Bruder ans Ufer, doch es ist zu spät!
Goldmans Eltern starben bei einem Unfall. Er lebt deshalb bei seiner Großmutter. Nach dem Unglück mit seinem Bruder erzählt sie ihm von einer Gabe, die er offensichtlich auch hätte. Sie selbst hatte diese Fähigkeit ebenfalls gehabt und jenen schauderhaften Gestank zum letzten Mal bei seinen Eltern gerochen. Kurz vor dem Unfall. Doch auch diese wären mit diesen Fähigkeiten ausgestattet gewesen! Philip ist ebenso entsetzt wie neugierig und erfährt von seiner Großmutter, dass die Gabe in seiner Familie wahrlich kein Einzelfall ist, sondern von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Goldman ist seither besessen vom Tod und in seinem Inneren längst im Reich der Toten. Noch weiß er nicht, welche Ziele er noch erreichen und wie er sein Vorstellungsvermögen um ein Vielfaches überschreiten wird. Es gibt Orte, die nie ein lebender Mensch je betreten hat, doch es gibt Ausnahmen! Philip Goldman kann den Tod riechen. Glaubt er jedenfalls, denn schließlich waren auch seine Eltern und die Großmutter davon überzeugt. Diese Überzeugungen werden im Laufe der Geschichte nicht unbedingt widerlegt - eher präzisiert und erweitert ...
Nach "Kim Schepper und die Kinder von Marubor" habe ich mich nun an das Debut von Wolfgang Brunner gewagt. Die zahlreichen Vorschusslorbeeren schreckten mich zunächst ab, da ich in dieser Richtung schon ganz ordentlich danebengegriffen habe. Doch schon im Prolog sind die Bedenken vom Tisch, ja regelrecht vergessen. Seine Hauptfigur Philip Goldman lässt er aus dessen ganz persönlicher Sicht die Ereignisse schildern, wobei er die Ich-Form sowie die direkte Ansprache an den Leser wählt. Goldman fragt uns z.B. im weiteren Verlauf der Geschichte, warum wir immer noch weiterlesen, oder bietet uns an, das Buch im Zweifelsfall auch in den Mülleimer werfen zu dürfen, während er nebenbei und in Rückblenden die ganze Geschichte erzählt. Wolfgang Brunner erzeugt mit diesem interessanten Wechselspiel eine ungewöhnliche Spannung, wobei er bereits im Prolog die Messlatte ziemlich hoch legt.
Weiterere Kunstgriffe sind die Erwähnung von Kinofilmen oder Musikgruppen, deren Kernaussagen der Autor nahtlos in die jeweiligen Befindlichkeiten seines Protagonisten einbaut. Hierbei zeigt er eine ganz erstaunliche Bandbreite, was so unterschiedliche Produktionen wie "Blue Velvet", "Friedhof der Kuscheltiere", "Predator", "Ghost", "Der Exorzist", "Die zehn Gebote" oder einfach nur billige ital. Zombiefilme betrifft. Noch ausgefallener scheint mir sein erlesener Musikgeschmack zu sein, denn Textzitate von extrem unterschiedlichen Bands aus dem Großraum Rock, New Age, Pop, Progressive-Rock und -Metal in die Handlung einzuweben, bedarf schon einer gewissen Sachkenntnis. Höchst interessant ist zudem, in welchem neuen Zusammenhang man Bands wie "Dream Theater", "Camel", "Supertramp", King Crimson, "Enya", "Saga", "Marillion", "Pain of Salvation"(!), "Ayreon", "Beyond Twilight", "Pink Floyd" oder "Evanescence" sehen kann ...
Wolfgang Brunner versteht es, komplexe Zusammenhänge wie Leben, Tod und was "danach" kommen könnte, einfach und unkompliziert zu formulieren, sodass man auf Goldmans abenteuerlicher Reise weder den Faden verliert, noch Schlaf finden kann. Keinesfalls kann man es sich vornehmen, mal eben schnell zehn Seiten weiterzulesen, denn dies dürfte auf Grund des durchgängigen Spannungsniveaus kaum möglich sein. Allein in den Beschreibungen der verschiedenen Schauplätze im "Abgrund" manifestiert sich der außergewöhnliche Ideenreichtum des Autors. Selbst Gebäude nehmen mitunter extrem bizzare Formen an, denn gewisse Häuser und ganze Städte sind auf eine ganz besondere Art und Weise "lebendig". Zeit spielt in dieser Welt keine Rolle mehr. Wie könnte sie auch, wenn sie in einem Labyrinth gefangen ist ... doch das könnte eine andere Geschichte sein.
Man kann über große Auflagen und "Abräumer" denken, was man möchte, aber in diesem Fall möchte ich mich ausnahmsweise einmal insofern aus dem Fenster lehnen, als ich diesem Roman ganz eindeutig das Zeug zum Bestseller attestiere ... wenn der schräge Schluss nicht wäre, der einige Fragezeichen aufwirft. Cryptanus ist kein alltägliches Buch und nach der Lektüre wirkt es noch lange im grauen Alltag nach. Es kann auch sein, dass es diesen in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt ... zumal das Ende vielleicht mehr Fragen als Antworten bereithält oder sogar schockieren kann. Dieser Gedankengang würde dann Goldman wiederum in ein anderes Licht stellen. Ist er Teil einer Prophezeihung oder ein Psychopath ...? Der zweite (noch nicht veröffentlichte) Band "Cryptanus 2 - Das Geheimnis von Griphus Nix" gibt hierüber hoffentlich Auskunft.
Wie dem auch sei, Brunners Genre-Mix, welchen er schlicht als "Real-Fantasy" definiert, kommt recht eigenständig daher. Das trifft es insoweit, als dieser selbstentwickelte Stil, der auch die Schubladen Love-Story, Science Fiction oder Philosophie bedient, bis fast zum Schluss durchgehalten wird. Dann wendet sich das Blatt und rückblickend könnte man meinen, einen raffinierten Thriller gelesen zu haben ...
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