Rückwärtsgehen - ohne umzukehren.
" ,Ich geh rückwärts, weil ich nicht länger vorwärts gehen will`, sagte der Mann. ,...wenn man immer nur vorwärts geht, verengt sich der Weg. Als ich anfing rückwärts zu gehen, sah ich die übergangenen und übersehenen Dinge, ich hörte sogar das Überhörte. Sie werden entschuldigen, wenn ich mich ihnen nicht ganz verständlich machen kann. Verlangen Sie keine Logik von mir, die Entdeckung, die ich gemacht habe, lässt sich nicht in Worte fassen.`" "Querdenken" beinhaltet wohl auch, etwas anders zu machen, deshalb finde ich, dass die Kurzgeschichte "Das Experiment" von Günter Seuren auf diese Seite passt. Das Rückwärtsgehen muss sicher nicht wörtlich genommen werden und der eine oder andere von euch Querdenkern hat vielleicht schon ähnliche Erfahrungen wie der "Mann, der rückwärts ging" gemacht. Für mich bedeutet sie einfach, dass man versuchen sollte, die Dinge nicht immer nur auf die alt bewährte Art zu sehen, weil sich manchmal ganz neue Perspektiven ergeben können, wenn man die Sachen mal ein bisschen anders angeht. Auch wenn das nicht immer zu einem (für andere) sichtbaren Erfolg führt, kann es einem doch für sich selbst jede Menge bringen. Aber ich will jetzt hier nicht mit irgendwelchen Weisheiten kommen, sondern einfach nur sagen, dass es sich lohnt, sich die Zeit zu nehmen, diese Geschichte zu lesen... Und vielleicht auch noch ein bisschen mehr Zeit, zum drüber nachdenken...?
Günter Seuren, Das Experiment
"Ich geh rückwärts, weil ich nicht länger vorwärts gehen will", sagte der Mann. Er war Übermittelgross, bleich vor Anstrengung, sich auf das Rückwärtsgehen zu konzentrieren, und hatte eine vom Wind gerötete Nase. Es blies ein heftiger Westwind, und die Böen, die die übrigen Fußgänger, mit denen der Mann in dieselbe Richtung ging, nur als Brise im Rücken empfanden, trafen ihn mitten ins Gesicht. Er bewegte sich langsamer als die anderen, aber stetig, wie ein Krebs im Rückwärtsgang. "Eines Tages", sagte der Mann, "war ich ganz alleine in einem windstillen Park. Ich hörte Amseln neben mir im Gebüsch nach Futter stochern, ich hörte Tauben rufen - und eine grosse Ruhe überkam mich. Ich ging ein paar Schritte rückwärts, und ich weiß jetzt: wenn man immer nur vorwärts geht, verengt sich der Weg. Als ich anfing, rückwärts zu gehen, sah ich die übergangenen und übersehenen Dinge, ich hörte sogar das Überhörtes. Sie werden entschuldigen, wenn ich mich Ihnen nicht ganz verständlich machen kann. Verlangen Sie keine Logik von mir, die Entdeckung, die ich gemacht habe, lasst sich nicht in Worte fassen. Und denken Sie auch nicht, dass ich ein Mann der Umkehr bin, nein, ich kehre nicht um, ich..." Der Mann schwieg ein paar Sekunden und sah entschlossen geradeaus, "es wird Sie wundern, aber ich bin kein Träumer." "Was sind Sie dann?", sagte der Begleiter, ein Mann der sich im herkömmlichen Vorwärtsgang bewegte, "so kommen Sie doch nicht weiter. Eines Tages sind Sie stehengeblieben, vielleicht wollten Sie das Gras wachsen hören, Sie traten einen Schritt zurück, um Abstand zu haben. War es so?" Der rückwärtsgehende Mann sah seinen Begleiter an, sein Blick war sanft. "Mein Experiment ist noch nicht abgeschlossen", sagte er. "Glauben Sie, dass Ihre Art der Fortbewegung sich durchsetzten wird?" sagte der Begleiter. "Eine schwer zu beantwortende Frage", sagte der Mann und hielt den Blick auf einen Punkt gerichtet, den der Begleiter nicht erkennen konnte. "übrigens ist meine Idee nicht neu. Wie mir später eingefallen ist, hatte ein längst zu Staub verfallenes Volk ähnliche Probleme zu lösen wie wir. Es war ebenfalls in ein Stadium getreten, wo sein Weiterleben in Frage stand. Es half sich auch auf eine scheinbar seltsame Weise, Sie können auch Trick sagen, wenn Sie wollen: Fortan wurden kriegerische Auseinandersetzungen unter den einzelnen Stämmen derart ausgetragen, dass sich die Gegner mit dem Rücken gegeneinander stellten und so lange Streiche und Hiebe in purer Luft ausführten, bis ein Kämpfer nach dem anderen ersch"pft zu Boden sank. Schwer atmend fielen ganze Heere ins Gras, und der anschließende Schlaf war verdient. Es waren tagelange, aber unblutige Schlachten, und die einzige Folge war ein gewaltiger Muskelkater. Wie finden Sie das?" "Zugegeben - ein brauchbares Ventil für Naturvölker", sagte der Begleiter, "aber nichts für uns. Was also versprechen Sie sich von Ihrem Rückwärtsgang?" "Ich hoffe", sagte der Mann, "das ich die Aufmerksamkeit auf mich lenke." "Das tun Sie auf jeden Fall", sagte der Begleiter, "das tut auch ein Dauerklavierspieler oder einer, der fünfzig Kilometer auf den Händen geht." Aber der rückwärts gehende Mann lies sich durch solche Anspielungen nicht aus der Fassung bringen. "Ich hoffe, ich werde verstanden", sagte er. "Als ich das erstemal rückwärts ging, lebte ich auf." "Schon gut", sagte der andere, "Sie sind nicht der erste, der solche Ansichten vertritt. Immerhin schlagen Sie etwas praktisches vor, doch ich bezweifle sehr, dass sie Erfolg haben." "Erfolg oder nicht", sagte der Mann, "wir sollten es versuchen, wir alle." "Verzeihung", sagte der Begleiter, "ich denke in Tatsachen: Haben Sie nie ein Protokoll wegen groben Unfugs bekommen?" Der rückwärtsgehende Mann sah seinem Begleiter zum erstenmal voll ins Gesicht. "Ein einziges Mal", sagte er lächelnd, "das war noch am Anfang, als ich noch unsicher war." "Und heute stoßen Sie mit keinem mehr zusammen?" "Niemals!" sagte der Mann noch immer lächelnd. Sie schwiegen. Mit elastischen Schritten ging der Mann rückwärts. Der Begleiter hatte Mühe, ihm zu folgen. Der Mann, der rückwärts ging, wurde schneller. "Entschuldigen Sie", sagte er, "ich muss mich leider etwas beeilen. Ich habe noch eine Verabredung. Auf Wiedersehen." Dann verschwand er im Gedränge. Der andere verlangsamte seinen Schritt, wie jemand, der zurückbleibt, um Atem zu holen. Wenige Augenblicke später geschah es. Wie aus einem Riss in der Asphaltdecke aufgestiegen explodierte ein mehrstimmiger Schrei. Die Menschen blieben stehen und sahen in eine bestimmte Richtung. Erst waren es einzelne, dann ganze Gruppen, die sich auf einen schnell anwachsenden Kreis aus Menschen zu bewegten. Als der Begleiter schließlich soweit vorgedrungen war, das er in den Kreis sehen konnte, sah er, das der Mann, der rückwärts gegangen war, wie eine vom Himmel gefallene große Marionette auf dem Asphalt lag. Aus dem Kreis sagte jemand: "Der Wagen hat keine Schuld, das kann ich bezeugen." Und ein anderer sagte: "Er muss betrunken sein. Er ging rückwärts." Der Begleiter schob sich in die Mitte des Kreises und bückte sich über den Mann. "Können Sie mich verstehen?" "Ja", sagte der Mann und bewegte sich nicht. Er lag mit der linken Wange auf dem Asphalt und sprach in die graue Decke hinein. "versuchen sie es einmal, wenn Sie ganz allein sind. Irgendwo. In einem Park oder nachts an einer freien Stelle. Ich hoffe, Sie werden Gefallen daran finden. Und machen Sie es besser als ich." Polizisten betraten den Kreis. "Können Sie Angaben machen?" sagte der Polizist zu dem Begleiter. "Er wollte rückwärts gehen", sagte der Begleiter. "Das ist heute schon der Vierte, der das versucht", sagte der Polizist. "Was ist nur mit den Leuten los?"
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Weiterdenken.... "nein, ich kehre nicht um, ich..." Der Mann, der rückwärts geht, beendet diesen Satz nicht. Er fügt nur hinzu, er sei kein Träumer. Ich frage mich manchmal, ob und wie man diesen Satz beenden müsste. Aber vielleicht sollte ich an dieser Stelle auch einfach mal was anders machen. Vielleicht sollte ich an dieser Stelle die Frage, die eigentlich noch nicht mal eine Frage, sondern nur ein nicht beendeter Satz ist, einfach offen lassen. Vielleicht weiß der Mann selbst noch nicht, was genau er ist und was genau er tut. Er tut es trotzdem. Vielleicht muss man gar nicht immer alles so genau hinterfragen, bevor man handelt...?
Der Vergleich: "... hatte ein langst zu Staub verfallenes Volk ähnliche Probleme zu lösen wie wir. Es war ebenfalls in ein Stadium getreten, wo sein Weiterleben in Frage stand. Es half sich auch auf eine scheinbar seltsame Weise..." Daraus ergibt sich ja dann, dass wir - oder vorsichtiger gesagt das Volk, zudem der Mann, der rückwärts geht, gehört, Probleme hat, die das Weiterleben bedrohen. Was man, bezogen auf unser "Volk", nicht unbedingt leugnen kann. Für mich stellen sich hier einige Fragen. Meint der Autor, dass auch wir - oder einige von uns durch (scheinbar) seltsame und erfolglose Methoden versuchen gegen die Situation unserer Gesellschaft vorzugehen? Will der Autor dazu ermutigen? Denn auch das zunächst eher sinnlos erscheinende Verhalten des Naturvolkes führt schließlich zu Erfolg, obwohl dieser erst nicht absehbar ist. Ist manches vielleicht gar nicht so sinnlos, wie es zunächst scheint?
Und zum Schluss: "Das ist heute schon der Vierte, der das versucht", sagte der Polizist. "Was ist nur mit den Leuten los?" Auch, wenn das Rückwärtsgehen dieses Mannes zum Schluss fehl schlägt, deute ich das Ende trotzdem als gewissen Erfolg, weil sich offenbar schon andere Menschen zum Rückwärtsgehen entschlossen haben. Der Mann hatte zwar selbst keinen Erfolg im Rückwärtsgehen mehr, hat aber andere dazu bewegt. Also doch ein Erfolg. Das kann man ja jetzt wieder wunderschön auf alles mögliche beziehen. Aber soweit will ich jetzt nicht gehen. Ich denke, dass kann wohl jeder für sich.
... Aber kann mir einer von euch die letzte Frage beantworten? "Was ist nur mit den Leuten los?"
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