CD-Review

ephemeral (2020)


Neofolk




... wobei man die leidige Schubladennotwendigkeit gleich mal um Neoklassik, Romantic oder auch Dark Folk und diverse andere musikalische Verweise und Schnittmengen ergänzen könnte. Die gewisse Unmöglichkeit, "ephemeral" in einem bereits etablierten musikalischen Dorf anzusiedeln, wird somit schnell klar, was jedoch keineswegs als Makel zu verstehen ist.

Ganz im Gegenteil, denn hier passiert etwas, was sich zwar mitunter "alt" anhört, letztlich aber etwas Neues ist. Neu ist vor allem die ungeheure Präsenz und Intensität einer Musik, die sich sowohl mit einer übersichtlichen Besetzung, als auch einem ebensolchen Instrumentarium, die jeweiligen Stücke betreffend, begnügt.

Nicht aber mit einer diffusen Herangehensweise, denn hier darf es gerne "etwas" mehr sein. "The Goblins' Cry" beispielsweise, Ella Zlotos' ehemals erster Solosong, frei nach Christina Rossettis (1830-1894) Gedicht "Goblin Market", in welchem hinter der vordergründigen Geschichte eine allgemeingültige Suchtproblematik herauszulesen ist, der erste Titel "Yet Do I Know", einer Adaption eines von Thomas Wyatt (1503-1542) übersetzten Sonetts von Francesco Petrarcas (1304-1374) oder das vertonte Gedicht (eines unbekannten Dichters/14Jh.) aus Englands mittelalterlichem "Wynter".

"Der Winter weckt all meine Sorgen" ist eindringlich genug, doch wird man es so nicht hören, da sich die Band auch noch bemüht hat, das herzerweichende Lied auf mittelenglisch zum Vortrage zu bringen! Allein dieser Wortklang zaubert neue Ufer.

Welches der fünf Lieder man zuerst irgendwo, -wie oder -wann hören mag, ist völlig egal, denn sie haben alle eines gemeinsam: Sobald die ersten Töne erklingen, geschieht etwas Eigentümliches. Sind das nicht jene Töne, Klänge und Stimmungen, die, längst verloren geglaubt, endlich wieder nach Hause kommen? Hat man sie nicht seit Äonen gesucht und auf sie gewartet?

Es öffnen sich Türen in "andere" Welten, die jedoch nicht in entsetzliche Fernen führen, sondern in eigene, vergessene oder noch gar nicht entdeckte Dimensionen.
Die lange so leer gebliebenen Räume beginnen sich zu füllen. Anfang, Sinn, Zweck und Ende feiern ein rauschendes Fest. Weiter und klarer kann man nicht sehen.

Weltmusikalisch von vielen erdigen Stilrichtungen beeinflusst und mit heftigem irischen Einschlag gesegnet, haben "ephemeral" einen völlig neuen, eigenständigen Weg beschritten, der zu einem großen Teil erst noch begangen und entdeckt werden will. Die Kreativwerkstatt Ella, Nikolaus und Patrick macht dies alles alleine und alles gemeinsam, also Musik, Arrangements, Texte, Übersetzungen, Artwork, Videos und die ebenso makellose wie lupenreine Produktion. 

Eine spannende Ambivalenz ergibt sich aus dem Willen des Trios, einen Song aus einem klar definierten, fundierten Hintergrund heraus zu entwickeln, sich in den neuen erweiterten Strukturen aber einen grenzenlosen Freiraum zur Improvisation zu erlauben, was einerseits nicht in jedem Song vorgesehen ist, andererseits in einer dreifachen Improvisation im experimentellen "Ēarendel" (altenglisch für Abendstern) gipfelt. So ganz nebenbei definieren "ephemeral" Abwechslung neu.

Ihrer Endlichkeit stets bewusst, entstehen somit kleine Klangwunder, die sich genau in diesen Gegensätzen sehr wohl fühlen. Sie sind eigentlich nur für den Moment existent, während sie im nächsten schon ganz anders klingen können. "Flüchtig" eben. Egal ob es sich um eine ebenso tanzbare wie kneipenschlägereitaugliche Ausgelassenenheit in "The Goblins' Cry" oder eine zutiefst bewegende existenzielle Erfahrung in "Wynter" handelt.

Wenn diese EP, dieses Kleinod, den Beginn, ja quasi "nur" einen Ausschnitt des geplanten Longplayers und diversen Konzertauftritten in der Zukunft, markiert, dann ist bis dahin noch genug Zeit, sich mit einem ordentlichen Vorrat an Taschentüchern auszustatten und sich auf dieses Ereignis mit allen verfügbaren Sinnen vorzubereiten.

Fazit: Tränen, die sich lohnen. Nichts ist vergeblich. Auch das Ende nicht.     
                
"Time will pass and love will stay."

 

Bewertung: 12/12
"Wynter" 12++/12

Thomas Lawall - November 2020

 

 

 

Tracklist:

1. Yet Do I Know
2. Wynter 
3. Ēarendel 
4. The Goblins' Cry 
5. Love Will Stay 
 

Line-up:

Ella Zlotos: Whistles, Harmonium, Harp, Vocals
Nikolaus Jira: Electric Guitar, Keys, Vocals
Patrick Maiwald: Percussion, Vocals

 

 

 

 

 

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