CD-Review

ANATHEMA "Judgement" (1999)


Also, mit Judgement ist musikalisch jetzt die höchste Stufe der Weisheit erreicht. Entweder saust Raumschiff Ana mit dem nächsten Album direkt in ein schwazes Loch und verschwindet auf Nimmerwiederhören, oder die Kiste bleibt auf einer erdnahen Umlaufbahn (na hoffentlich!).

Judgement ist für mich die erste Anathema-Veröffentlichung mit echten Höhen und Tiefen, denn erstmals gibt es auch Stücke, die mir weniger gut gefallen. Die Kritik findet aber auf höchstem Niveau statt ("weniger gut" heißt also nicht "schlecht"!)

Mit allen Berufskritikern und Sesselpupsern bin ich einer Meinung, was die nochmalige gesangliche Weiterentwicklung von Vincent betrifft. Er konnte wieder einiges zulegen, was im ersten Stück zunächst noch gar nicht so recht aufgefallen ist. Mit "Deep" beginnt die CD recht lebhaft und der wieder eingestiegene Drummer John Douglas kann sich gleich richtig austoben. Ebenso bei "Pitiless" geht's noch ab - aber "Forgotten Hopes" leitet dann das gepflegte Bremsmanöver ein.

Die Instrumentaleinlage "Destiny Is Dead" kann mich nicht so recht vom Hocker reißen - da kann man sehen (pardon - hören), wie's ist, wenn die Stimme fehlt... Doch dazu später mehr.
Der erste richtige Höhepunkt ist "One Last Goodbye". Die Musik ist einfach wunderbar und der Text erinnert an vergessene Beziehungsdramen. Ich war froh, diese dunklen Tage vergessen zu haben - aber dieser Song holte die verzweifelte, längst  vergessene (verdrängte) Stimmung wieder zurück.

"Parisienne Moonlight" irritiert mich nach wie vor. Mit der Frauenstimme kann ich nicht viel anfangen (Sorry Lee!). Aber da sich der Titelsong "Judgement" so nahtlos anfügt, passt's doch irgendwie ganz gut, so als eine Art Overtüre. Beim ersten Hördurchgang bin ich am Ende ganz schön erschrocken... denn dieses Phänomen kenne ich noch aus alten Tagen, als mir immer die Nadel vom Plattenteller geschrabbt ist, wenn meine guten WG-Mitbewohner alle auf einmal ins Zimmer stürzten...

"Emotional Winter" erinnert mich ebenfalls an düstere Zeiten. 26 Jahre ist es her, als Pink Floyd "Wish you were here" rausbrachten. Die ganze Stimmung in diesem Song lässt, ohne zu kopieren, die "gute alte Zeit" nochmal hochleben. Klasse!

"Wings of God" gehört eher wieder zu den Songs, die bei mir einfach nicht so recht den Zutritt finden. Lediglich den spacigen Schlusspart finde ich genial und es würde mir rein gar nichts ausmachen, wenn das stundenlang so weiter gehen würde!

Bezeichnend für das Auf und Ab dieser CD ist das nächste Stück "Anyone Anywhere". Nach der akustischen Einleitung und dem tieftraurigen Gesang kommt der Break des Jahrhunderts: NO DON'T LEAVE ME HERE...
Die brutal-schleppende Gitarre ist dermaßen heavy und versetzt der gemarterten Seele einen ultimativen Schlag in die imaginäre Magengrube. Das heftige Drama läßt Dario Patti mit sanftem Pianospiel ausklingen...
Dieser Song ist genobrontal (neues Wort von mir = 10fache Steigerung von der Floskel "genial") - auch wenn sich die Übersetzung des Textes (wiedermal) als schwierig erweist. Hier bleibt es wieder dem einzelnen Hörer überlassen, wie er das Ganze auslegen möchte. Die einen sehen das verzweifelte Flehen, nicht verlassen zu werden - die anderen mögen das wohl weitaus globaler sehen. Denn wie sollte man "die Ketzerei der Menschheit" auslegen... da bleibt viel Raum zur Interpretation.

Der eher schwermütige Hörer sieht sich ratlos und kurz vor der real existierenden Verzweiflung. Doch halt, ihr Lieben. Anathema sind und bleiben rätselhaft. In diversen Interviews wird klar, dass sie selbst das Ganze weniger tragisch nehmen.
Und spätestens bei einem Live-Act sollte der/die aufmerksame und kritische Zuhörer/in, neben allem Schmerz, auch das diametral Entgegengesetzte feststellen können. Anathema bringen ihre trostlosen Songs - aber dennoch verbreiten sie gute Laune! Wie ist diese Ambivalenz nur möglich?

Und hier komme ich jetzt in eine Zone, die mir persönlich die allergrößten Probleme verursacht. Ich liebe die Ana-Widersprüche über alles! Ganz klar. Und auf CD habe ich keine Probleme damit. Die Musik ist göttlich und die Texte lege ich mir aus, wie es in meine momentane Stimmung passt. Meistens ist es aber so, dass mich bestimmte Textpassagen an meine bewegte Vergangenheit erinnern - und ich ordne mich selbst in die Liga der ambivalenten Schwerenöter ein, die sich mitunter gerne in dem Gefühlsmatsch vergangener Tage suhlen. Traurig sein hat doch irgendwie auch was Schönes, oder?

Dieses verfluchte "sich immer wieder in Frage stellen" ist auf die Dauer zwar ganz schön anstrengend, aber es hat auch recht bequeme Seiten. Es fällt mir z.B. überhaupt nicht schwer, mir zu widersprechen oder mich selbst in Frage zu stellen. Das ganze Leben ist schließlich ein Fluss, der immer wieder zu neuen Ufern führt...

Ein paar Bemerkungen zur Live-Umsetzung:
Ich wünsche mir einen Ana-Auftritt in bestuhlter(!) Halle. Ich wünsche mir eine Atmosphäre wie bei den uralten, ersten Genesis-Konzerten. Ich wünsche mir ein Publikum, das NUR zum ZUHÖREN gekommen ist! Ich wünsche mir eine Gruppe, die ohne die peinliche Mitmach-Animation auskommt!!! Wieso - wieso nur - muss ich mitklatschen (oder werde ständig dazu aufgefordert), wenn mir gar nicht danach ist und/oder die Songs eigentlich GANZ UND GAR NICHT dazu passen??
Wieso, verdammt nochmal, besteht ausgerechnet Anathema auf dieses oberflächliche Feedback ihrer Fans????? Ist es nicht wesentlich beeindruckender und befriedigender für die Gruppe, wenn das Publikum zu Tränen gerührt wird...?

Es ist mir klar, dass ich mit dieser Meinung so ziemlich alleine dastehe - aber trotzdem wünsche ich mir eine ernsthaftere "Aufführung" von "One Last Goodbye", "Anyone, Anywhere" und all den anderen wunderbaren Songs...
Ich möchte ein KONZERT besuchen - keine Party!! DAS überlassen wir doch lieber unseren Kindern - also der "Fun-Generation"!

Schluss jetzt! Zu "Destiny Is Dead" wollte ich noch was loswerden. "2000 & Gone" passt auch dazu.
Ich denke, die beiden genannten Titel sind wohl ein eindeutiges Angebot an alle ambitionierten Filmemacher! Auf einer CD mögen die zwei Stücke nicht viel hergeben, aber sie lassen im Kopf Bilder entstehen! Als "Untermalung" für einen Film sind sie deshalb weit mehr als geeignet...

...Soll ich, oder soll ich nicht?... Gut! Ich trau' mich jetzt: John Carpenter sollte es endlich dem Schorsch Lukas nachmachen und, verdammt und verflucht nochmal, die längst überfällige Fortsetzung von seinem völlig abgedrehten, kultigen Erstlingswerk "DARK STAR" (1974) basteln. Das wäre doch total einfach John: Du kümmerst Dich weiterhin um die Zerstörung von instabilen Planeten und überlässt den Soundtrack zur Abwechslung mal anderen Leuten...

Ja, das war's. Ich bin den ganzen, weiten Weg mit Anathema gegangen. Jetzt sehe ich in die Zukunft... und ich sehe sehr viele, sich verzweigende Pfade. Alle verschwinden sie in einem seltsamen Nebel. Welchen Weg ich gehen soll, weiß ich nicht...

... ich warte jetzt einfach ab...


Thomas Lawall - März 2000 (Überarbeitung im November 2004)
 

 

Tracklist:

01: Deep
02: Pitiless
03: Forgotten Hopes
04: Destiny is dead
05: Make it right (F.F.S.)
06: One last goodbye
07: Parisienne moonlight
08: Judgement
09: Don't look to far
10: Emotional Winter
11: Wings of god
12. Anyone, anywhere
13. 2000 & Gone

Line-up:

Vincent Cavanagh: Voice, Guitar
Danny Cavanagh: Electric & Acoustic Guitars, Keyboards
John Douglas: Drums
Dave Pybus: Bass Guitar

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