CD-Review

ANATHEMA "Alternative 4" (1998)


Typisch Anathema. Denn im 4. Longplayer gibt's wieder Überraschungen. Ich hatte ja schon in meinem Review zu The Silent Enigma dezent angedeutet, dass die absoluten Schwarz-Apostel unter uns sich die nächsten drei Scheibchen von Anathema lieber nicht geben sollten, wenn sie zu allem verbalen Schmerz den musikalischen Dampfhammer zwecks Kompensation benötigen.

In der "Klavier-Overtüre" zu Alternative 4, spricht/singt Vincent ja so was ähnliches (na ja - im weitesten Sinne jedenfalls) und bestätigt mir meine Warnung auf wunderbare Weise...

Wahrhaft fassungslos war ich, als ich diesen Opener zum ersten mal hörte! Wie kann man nur unsere aussichtslose Existenz, den winzigen Zeitabschnitt, den die Menschheitsgeschichte im Vergleich zum Alter des Universums einnimmt, in derart kurzen Worten nahezu vollkommen auf den Punkt treffen!
Verflucht nochmal! Das hat mich so ins Herz getroffen - Ich könnte jetzt ein Review ALLEIN über "Shroud Of False" schreiben!

Muss mich jetzt wirklich mit Gewalt zur Tagesordnung zwingen... Ich war bei der Warnung stehengeblieben. Shroud Of False beschreibt also in der kürzesten Formulierung, die man sich nur vorstellen kann, das Drama unseres kurzen Lebens - den "Augenschlag" an Zeit, den wir zur Verfügung haben. (Oh Gott, das ist das schwierigste Review meines Lebens!). "Ich hoffe, ihr werdet es nicht verstehen" ist wohl eine Warnung an alle, die sich schon einmal damit beschäftigt haben, dem sinnlosen Leben ein (noch sinnloseres) vorzeitiges Ende bereiten wollen...

Ein paar Fakten: Alternative 4 erscheint im Juni 1998. John Douglas hat (vorübergehend) das Schlagwerk an Shaun Steels abgegeben und Hauptsongwriter Duncan Patterson gibt im September 1998 den Bass an Dave Pybus ab. (Schade eigentlich - aber die darauf folgenden Trennungsgerüchte strafte dann "Judgement" im Frühjahr 1999 Lügen!...)

Ok, Alternative 4 hat die scheinbar eiserne Konsistenz des Vorgängers Eternity verloren. Es wurde weiterer Ballast abgeworfen. Vincents Gesang konnte sich weiter verfeinern und legte an Ausdruck einen Quantensprung hin. Überragend! Wir hören in diesem Album wieder Geschichten von unseren Träumen, unserer inneren Leere, von Stille, von Einsamkeit, von dem, was wir schon immer geahnt haben und dass wir bald nicht mehr da sein werden...

Jeder Song steht jetzt wirklich wieder einzeln für sich. Der unerklärliche Zusammenhang, wie einst in Eternity, existiert nicht mehr. Die Gitarren rücken immer mehr in den Hintergrund und die Stimme dominiert immer mehr.

Im zweiten Stück "Fragile Dreams" drehen Anathema noch einmal voll auf, und auch nach dem dritten Stück "Empty" könnte beim irritierten Hörer noch die Hoffnung aufkeimen, es gehe wieder in die alten Tage zurück. Doch "Lost Control", "Re-Connect", "Inner Silence" und "Regret" (kultiger Hammond-Orgel-Sound) nehmen die zukünftige Entwicklung voraus und rauben den Doom-Jüngern nun endgültig jede Illusion...
Allein das zarte Akustik-Gewand aus Piano und Geige dürfte für sie abschreckend genug sein.

Den Titelsong "Alternative 4" möchte ich besonders hervorheben. (Gott sei Dank hat der Song nichts mit "Alternativ-Rock" zu tun!) Ich möchte sehr gerne wissen, wie oft Anathema dieses Stück wohl überarbeitet haben. Ich könnte mir den ersten Entwurf dieses Stücks sehr gut als unbearbeiteten Marmorklotz vorstellen. Im weiteren Verlauf meißelten die Jungs immer mehr von dem Ungetüm weg... Übrig bleibt das reine
Kunstwerk - von jedem unnötigen Schnickschnack befreit.

Das kultigste Stück ist für mich "Feel". (Duncan - Thank you for that!!) Ja, der Ducan bedient(e) ja eigentlich den Bass, aber er scheint eine heimliche Liebe für herrlich altmodisches Hammond-Georgel zu pflegen. Klasse - das kommt echt gut! (Voll aufdrehen!!)

Fazit: Anathema minimieren sich weiter - sie abstrahieren sich selbst. Und zwar auf das Wesentliche. Das kommt im letzten Stück "Destiny" noch einmal ganz klar zum Ausdruck. Das Motto von Alternative 4 mag sein: Weniger ist MEHR.

Wieder einmal kann nur Anathema es schaffen, diesen Widerspruch erfolgreich umzusetzen...
Typisch Anathema!


Thomas Lawall - März 2001 (Überarbeitet im November 2004)
 

 

Tracklist:

01: shroud of false
02: fragile dreams
03: empty
04: lost control
05: re-connect
06: inner silence
07: alternative 4
08: regret
09: feel
10: destiny

Line-up:

Vincent Cavanagh: Voice, Guitars
Daniel Cavanagh: Guitars
Duncan Patterson: Bass
Shaun Steels: Drums

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