LP-Review

Peter Abélard (1079-1142)

"Planctus Jeptha" - Planctus David"

Studio der frühen Musik (1974)
EMI "Reflexe" 1C 063-30 123 [LP-Stereo]



Einzigartiger Klagegesang des Mittelalters


Diese Platte ist anders. Ganz anders. Schon beim ersten Ton läuft es mir eiskalt den Buckel runter. Diese Platte ist eine Zeitreise, die uns geradewegs und ohne Umwege 900 Jahre zurückführt!!!

Abélard studierte Dialektik und lehrte Philosophie und Theologie. Leider war er ein früher Querdenker und hatte selbstverständlich die entsprechenden Probleme! So behauptete er z.B., dass "die Universalen nicht mit ihrem reinen Wesen, sondern nur endlich bestimmt und begrenzt in den Einzeldingen wirklich seien"! ...
Äh - ja - erstens verstehe ich das nicht, und zweitens bin ich anderer Meinung. Das tut hier aber nichts zur Sache...

Ach ja - noch was. Peter liebte eine Frau, die er nicht lieben durfte: Heloise, die Nichte des Kanonikus Fulbert. Die verhängnisvolle Affäre endete für die Geliebte im Kloster und für Abélard mit einer "Entmannung"! Abélard schrieb: "... indem sie mich der Glieder meines Körpers beraubten, womit ich das begangen, was ihnen so leid war."

Dem 1960 gegründeten Ensemble "Studio der frühen Musik", unter der Leitung von Thomas Binkley, ist es gelungen, eine fast erschreckend realistische Stimmung zu erzeugen, die dem Zuhörer die Illusion vermittelt, tatsächlich einen direkten Kontakt zu diesen düsteren Zeiten herstellen zu können!

Leicht war das nicht, denn alle Klagelieder sind in einem Manuskript der Vatikanbibliothek zwar erhalten geblieben, aber die Neumen (mittelalt. Noten) sind allesamt ohne Linien notiert. Andere Manuskripte weisen immerhin eine Notation im Vierliniensystem vor. Dennoch war und ist es fast unmöglich, diese zu transkribieren!

Das Ensemble hat dennoch das Unmögliche gewagt, allerdings unter dem Vorbehalt, nicht behaupten zu können, dass diese Melodien mit den Originalen von Abélard übereinstimmen.

Das außergewöhnliche musikalische Experiment mag für den nicht vorbereiteten Hörer eher    unspektakulär klingen. Doch arbeitet man sich durch diese vermeintliche Vordergründigkeit hindurch, wird man Wege entdecken, die im Verborgenen lagen und doch auf eine ganz eigentümliche Weise seltsam vertraut klingen!

Ich stürze beim Hören dieses Werkes unaufhaltsam durch die Jahrhunderte und lande in einer Zeit, die mich "Erschaudern" neu definieren lässt! Das Grauen und der unsägliche Mief dieser dunklen Zeit scheint zum Greifen nah! Zeitmaschinen müssen nicht erfunden werden! Das Studio der frühen Musik schafft diese Leistung auf intellektuellem Weg!

Ich fliege zurück, sehe und fühle andere Menschen, eine verlorene andere Zeit, unbegreiflich und doch so klar. Ich bin ein Fremder in der eigenen Vergangenheit. Und doch habe ich die Ehre, diese fremdvertraute Welt betreten zu dürfen.

Fazit: Außergewöhnliche Platte. Außergewöhnliche Musiker. Außergewöhnliches Erlebnis.


Thomas Lawall - Mai 2002 (überarbeitet im November 2004)
 

 

Tracklist:

Seite 1:
01. Planctus David

Seite 2:
02. Planctus Jephta
03. O quanta qualia

Line-up:

[1] Studio der frühen Musik
Andrea von Ramm: Mezzosopran, Organetto
Richard Levitt: Altus, Schlaginstrumente
Sterling Jones: Lira, Rebec
Thomas Binkley: Laute

[2] Studio der frühen Musik
Andrea von Ramm: Gesang
Sally Smith: Gesang
Barbara Thornton: Gesang
Pilar Figueras: Gesang
Montserrat Savall: Gesang
Sterling Jones: Lira
Thomas Binkley: Flöte 
Richard Levitt: Tabor

[3] Studio der frühen Musik
Andrea von Ramm: Mezzosopran
Richard Levitt: Altus
Sterling Jones: Chitarra Saracenica (gestrichen)
Thomas Binkley: Laute

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