Literatur

Totenmaske

von Helene Henke


432 Seiten
© 2013 Droemer Verlag
www.droemer.de
ISBN 978-3-426-22632-2



Die Sonderkommission Mainz tagt seit Stunden. Die Stimmung unter den Kollegen ist wie gewohnt nicht die beste. Hauptkommissar Willi Neumannn hat soeben einen weiteren Fall aus Mangel an Indizienbeweisen vorerst auf Eis gelegt. Leon Strater fühlt sich in dieser Runde nicht wohl. Die älteren Kollegen missbilligen seinen Ehrgeiz, ungeklärte Fälle immer wieder zu bearbeiten, da sie die damit verbundene Mehrarbeit scheuen. Zu komplizierte Fälle werden deshalb gerne als ungelöst abgeschlossen.

Der Hauptkommissar greift den letzten Tagesordnungspunkt auf. Es handelt sich um einen Verkehrsunfall mit tödlichem Ausgang. Drei junge Männer stürzten einen Steilhang in einem Abbruchgelände hinab. Zwei wurden herausgeschleudert und einer im Wagen eingeklemmt. Alle drei starben. In diesem Zusammenhang zeigt Willi Neumannn auch eine Radaraufnahme des Wagens.

Leon studiert die bisher vorliegenden Berichte und Fotos. Der Todeszeitpunkt der Verunglückten konnte relativ genau ermittelt werden. Es geschah an einem Freitagabend. Die Radaraufnahme stammt jedoch vom frühen Sonntagmorgen. Wie kann es sein, dass die Männer in eine Radarkontrolle gerieten, obwohl sie bereits seit mehr als 24 Stunden gar nicht mehr lebten? Und noch eine Ungereimtheit entdeckt Leon. Auf dem Foto des völlig veralteten Gerätes ist niemand der Personen zu erkennen, eines jedoch scheint klar zu sein: Es waren vier Personen im Wagen ...

Die Bestatterin Zoe Lenz liebt ihren Beruf. Früh den Vater verloren, führt sie mit erst 19 Jahren den Familienbetrieb weiter, den sie von ihrem Großvater übernommen hat. Mit ihrer Mutter pflegt sie kein besonders gutes Verhältnis, in der Kundenbetreuung und der Organisation des Unternehmens ist sie jedoch unentbehrlich, und geht in ihrer Rolle völlig auf. Ebenso ihre Tochter, die sich rein den Verstorbenen und den jeweiligen Angehörigen verpflichtet fühlt.

Ihr erklärtes Ziel ist, die Toten mit einem möglichst perfekten äußeren Erscheinungsbild auf die große Reise zu schicken. Sie redet mit ihnen und möchte sie aussehen lassen, "als hätten sie während eines Spaziergangs innegehalten, um mit geschlossenen Augen die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht zu genießen". Sie sieht sie immer noch als Menschen und für sie ist der Tod ein selbstverständlicher Bestandteil des Lebens.

Ihre Welt gerät ins Wanken, als sie die Vergangenheit einzuholen scheint. Einst wäre sie beinahe einer Vergewaltigung zum Opfer gefallen. Im letzten Moment eilte ihr damals Freund Josh zu Hilfe, der mit seinem Vater zufällig in den Wäldern des Hunsrück unterwegs war. Und genau jener Boris Nauen, der mit seinen beiden Kumpanen verunglückte, liegt jetzt in der Leichenhalle. Nun gilt es, bis zur Beerdigung die schweren Verletzungen der drei Männer zu kaschieren, um den Angehörigen zu ermöglichen, Abschied zu nehmen und ihnen ein möglichst harmonisches letztes Bild zu schenken, dass sie in ihrer Erinnerung behalten können ...

... und die Herstellung dieser Illusion beschreibt Helene Henske mit aller Konsequenz. In vielen Fällen ist eine hygienische Grundversorgung vor der Sarglegung nicht ausreichend. Insbesondere wenn schwere Verletzungen vorliegen und der Tote aufgebahrt werden soll, sind eine ganze Reihe von Maßnahmen notwendig, um das Erscheinungsbild des Toten in einer möglichst ästhetischen Form wiederherzustellen. Zoe Lenz ist eine der wenigen Thanatologinnen, die sich auf dieses Fachgebiet verstehen und es mit Leidenschaft ausüben.

Die Autorin spart nicht mit ebenso seitenlangen wie schaurigen Details, wie beispielsweise eingedrückte Schädeldecken oder gar abgetrennte Gliedmaßen wieder in Form gebracht werden können. Die Thanatopraxie in allen ihren Schattierungen spielt in "Totenmaske" eine ausgezeichnet recherchierte, heimliche Hauptrolle, die, neben aller anfänglicher Gegenwehr des Lesers, ganz erstaunliche An- und Einsichten in jenes Handwerk gewährt.

Ganz allgemein verwendet Helene Henke sehr viel Zeit auf die Charakterisierungen ihrer Hauptfiguren. Zoe Lenz liebt ihre Toten und die Autorin ihre Protagonisten. Den exakten Beschreibungen in der Leichenhalle stehen ganz erstaunlich feinsinnige Beobachtungen der Befindlichkeiten ihrer Besetzung gegenüber. Selbst minimal angedeutetes Wechselspiel der Mimik weiß sie sehr spannend zu bemerken und zu deuten.

Die Geschichte selbst spielt in einem überschaubaren Rahmen. In einer ländlichen Idylle lauert nicht selten das Grauen. Das einzige Manko des Romans mag sein, dass die Spannungskurve am Ende etwas abflacht und die Auflösung des Falles dann zu einfach und fast vorhersehbar erscheint. Entscheidend ist aber der Weg dahin, und dieser kann spannender nicht sein.

In Verbindung mit dem zitierten Einblick in das Fachgebiet der Thanatologie ist "Totenmaske" sicherlich einer der spannendsten Kriminalromane des Jahres 2013. Der leichte Spannungsverlust am Ende mag sich dahingehend relativieren, als sich die Geschichte der Bestatterin Zoe Lenz mit Sicherheit fortsetzen wird, denn diese Figur hat großes Potential. Die sich anbahnende Liason mit dem Kriminalbeamten der Soko Mainz sowieso ...

 

Thomas Lawall - Januar 2014

 

 

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