Literatur

Wo Milch und Honig fließen

von Grace McCleen


384 Seiten
© Grace McCleen 2012
© der deutschsprachigen Ausgabe
2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München
www.dva.de
ISBN 978-3-421-04546-1



Judith McPherson geht im "Land der Zierde" spazieren. Unglaubliches gibt es hier zu sehen - die Zehnjährige traut ihren Augen nicht. Da stehen Eispaläste aus Gletscherbonbons und Brunnen aus Lametta. Dämme wurden aus leeren Smarties-Rollen gebaut und in Bäumen aus Baumwolle glitzern mit Juwelen besetzte Früchte. Unzählige Tiere wie "Bonbonpapiermücken, Daunenpusteblumen und glitzernde Hutnadellibellen" bevölkern die Traumlandschaft. Plötzlich ruft sie eine Stimme und führt sie zu einer Wiese. Judith begegnet einem bärtigen alten Mann mit pechschwarzen Haaren. Auserwählt sei sie, heute ein unschätzbar wertvolles Geschenk zu erhalten, erzählt er ihr, die Hände hinter seinen Rücken haltend.

Was er ihr anzubieten hat, darf sie nicht sehen, denn Judiths Entscheidung soll unbeeinflusst sein. Zur Wahl stehen ein Stein, der unbegrenzte Macht verleiht, und ein Buch, "das die Weisesten der Weisen zu lesen begehren". Beides würde Judith interessieren, doch für einen Moment scheint sie der Schwierigkeit, sich entscheiden zu müssen, nicht gewachsen zu sein. Schließlich entscheidet sie sich, nicht unerheblich durch ihre momentane Situation beeinflusst, für den Stein ...

Wie das Sterben ist, möchte Judith von ihrem Vater wissen. Und da diese Frage wenig Begeisterung bei ihm auslöst, geht sie gleich zur nächsten Frage über, denn wie lange man unter Wasser überleben könne, möchte sie ebenfalls in Erfahrung bringen. Ihr Vater reagiert ausweichend und möchte lieber zum täglichen Lesen der Bibel übergehen. Das "Nachsinnen" über die jeweils gelesenen Textstellen erscheint ihm wichtiger und notwendiger, als sich mit den sehr realen Problemen seiner Tochter auseinanderzusetzen.

Die Schule ist für Judith ein täglicher Spießrutenlauf. Niemand kann sie leiden und vor allem dieser Neil Lewis nicht. Ständig hackt er auf ihr herum und sein Ideenreichtum an Gemeinheiten ihr gegenüber scheint keine Grenzen zu kennen. Ob sie schon einmal eine Kloschüssel von innen gesehen habe, fragte er sie, und sprach für den nächsten Schultag eine entsprechende Drohung aus. In Erwartung der Ereignisse wird das dazwischenliegende Wochenende für Judith zur Qual. Ihre Welt gerät aus den Fugen und niemand scheint ihr helfen zu wollen.

Nur ein Wunder könnte vielleicht helfen. Wenn alle Welt und sogar der eigene Vater ihr jede Hilfe versagen, muss sie selbst etwas unternehmen. Schneien könnte es - das wäre eine Lösung. Der Wetterbericht kündigte nichts dergleichen an, doch der Wochenbeginn gestaltet sich anders als erwartet. Es schneit tatsächlich und Vater kann nicht zur Arbeit gehen, weil in der Firma der Strom ausgefallen ist. Auch die Schule ist geschlossen. Das erste Wunder war geschehen, doch es sollte nicht das letzte sein ...

Die zehnjährige Judith McPherson hat sich ihre eigene Welt erschaffen. Sie baut sie sich nach ihren ganz persönlichen Vorstellungen und verwendet hierzu Gegenstände und Abfälle jeder Art. Aus alten Teppichbodenstücken, Cord, Krepppapier, Folien, Dosen, Besenstielen und Verpackungsmaterialien baut sie Städte, Felder, Wiesen, Schiffe, Meere, Sonne, Mond und Sterne. Auch Tiere und Menschen kann sie erschaffen, und dazu braucht es nur etwas Wolle, Stoffe, Kleber, Modelliermasse, Pfeifenputzer, Farbe, Tipp-Ex und Zahnstocher. Auch etwas Atem braucht sie, denn schließlich muss der Mensch ja zum Leben erweckt werden ...

Grace McCleen hat mit "Wo Milch und Honig fließen" einen Roman aus Licht und Wunderlichem geschrieben. Aus der Sicht eines Kindes erscheint jenen, die sich noch in kindliche Fantasiewelten hineindenken können, die Realität gänzlich anders. Die Autorin wagt sich mit fast radikaler Konsequenz auf die kindliche Ebene und unterstreicht dies mit drastisch ungewohnten Perspektiven. Wenn Judith stürzt, fällt ihr die Erde entgegen. Mit den Augen dicht am Boden, sieht die Erde noch viel größer aus, als sie es ohnehin ist. Kilometerweit erstreckt sich alles in alle Richtungen. Die spielenden Kinder werden zu Riesen und ein Ball zu einem Planet. Schaut man dagegen ganz von oben, sind alle klein wie Fliegen.

Judith ist anders. Bis ins Detail. Ein achtlos weggeworfenes Bonbonpapier ist für sie kein Abfall. Sie wird daraus "Blumen oder einen Regenbogen oder vielleicht auch eine Krone machen". Ihre ausufernde Fantasie ist deutlich von religiösen Vorstellungen ihres Vaters beeinflusst, der sich in seiner Verweigerung, Weihnachten und Geburtstage zu feiern, sowie der Verbreitung der Lehre von der "Schlacht von Harmagedon" eindeutig als Anhänger der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas auszuweisen scheint. Grace McCleen lässt ihre Hauptdarstellerin eigene Schlüsse daraus ziehen und ihre eigene Sicht der Welt zu entwickeln. Dabei bleibt sie wertungsfrei, denn Judiths Lebensentwürfe und ihre tiefe Einsichten sprechen für sich selbst. Dabei entsteht ein ungeheures Spannungsfeld, denn sowohl der Vater als auch die Tochter sind durch den Tod der Mutter und Ehefrau gleichermaßen traumatisiert, wenn auch unter jeweils anderen Vorzeichen.          

Haupttitel und Thematik sind in der Literatur gewiss nichts Neues. Neu ist aber sicherlich die atmosphärische Dichte des Romans. Weit ist der Weg, bis man endlich erwachsen ist. Viele gehen ihn unbewusst, doch Judith erlebt jeden einzelnen Tag und sie nimmt ihr Schicksal selbst in die Hand. Die Vermischung von bestimmten religiösen Vorstellungen und der Entwicklung einer eigenen Identität ist einzigartig. Hochsensibel erzählt Grace McCleen die Geschichte von Judith McPherson, die in großen Teilen autobiografische Züge haben dürfte. Das Universum ihrer Worte ist sehr persönlich - alles wirkt wie selbst erlebt und gefühlt. Jedes einzelne ihrer Worte scheint in einer faszinierenden Balance mit dem Hauptthema zu interagieren.

Das Buch fasziniert und erschreckt zugleich - und letztlich bedeutet es pures Glück, so etwas lesen zu dürfen. Jeder, der nicht an Wunder zu glauben vermag oder sich zumindest fragt, ob es sie nun gibt oder nicht, wird in diesem Werk eine eindeutige Antwort erhalten!

 

Thomas Lawall - März 2013

 

 

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