Wir waren nur Kinder
von Rachel Jedinak
96 Seiten © Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2024 www.fva.de ISBN 978-3-627-00324-1
Noch konnten die Erwachsenen ihre Kinder vor dem Stand der Dinge, und dem, was sich entwickeln würde, schützen. Eine behütete Kindheit sollte sich aber nicht mehr lange aufrecht erhalten lassen. Als Rachels Vater 1939 freiwillig in den "Sitzkrieg", den "drôle de guerre", zog, kam man noch ohne Kampfhandlungen aus. Auch an ihre Lehrerinnen erinnert sich Rachel Jedinak,
"die Wälle der Zärtlichkeit um uns errichteten."
1940 griffen die Deutschen, nach Norwegen und Dänemark, die Niederlande, Belgien und Frankreich an. Der Blitzkrieg verursachte eine erste Flucht, nachdem in aller Eile das Notwendigste an Mobiliar und Kleidern zusammengepackt wurde, auf dem Lastwagen eines Onkels.
"Wir Kinder verstanden gar nichts."
Die Umstände erzwangen eine Rückkehr nach Paris in die alte Wohnung. Doch im 20. Arrondissement in der Rue Duris sollte sich alles grundlegend ändern. Die Tage der Kindheit waren gezählt. Sechs Tage vor der Kapitulation Frankreichs, erreichte die deutsche Wehrmacht am 14. Juni 1940 Paris.
"Antisemitische Maßnahmen" steigerten sich zunehmend, und nahmen immer groteskere Formen an. Plötzlich waren sie Feinde, und selbst Kinder nichtjüdischen Ursprungs nahmen die Hassfloskeln ihrer Eltern und ihres Umfeldes an, um Kinder wie Rachel, der in Paris geborenen Tochter einer polnisch-jüdischen Familie, vom kindlichen Spiel auszuschließen, weil sie "jüdisch" war. Rachel Jedinak erinnert sich an einen
"riesigen Schmerz, der größer als die Welt war."
Spätestens an dieser Stelle erstaunt die Autorin mit einer, zumindest aus ihrer heutigen Sicht, nicht auf Anklagen ausgerichteten Sichtweise. Schließlich war sich die kleine Madeleine, die damals nicht auf einem Rollbrett mit ihr fahren wollte, nicht dessen bewusst, was sie sagte. Denn sie wiederholte nur, was man ihr eingetrichtert hatte, und was sie selbst gar nicht verstand.
Erst recht nicht, was sich dann am 16. und 17. Juli 1942 zugetragen hat. 13152 Juden wurden im Rahmen einer ersten Massenverhaftung, der "Rafle du Vélodrome d'Hiver" in ein Radstadion gebracht, um später in die deutschen Vernichtungslager deportiert zu werden.
Ab hier beginnt Rachels gemeinsame Flucht mit ihrer Schwester Louise, die sie wohl letztlich ihrer Mutter zu verdanken haben. Die bedingungslose Liebe beider Eltern war ein Fundament, das wesentlich zur Rettung ihrer beiden Töchter beigetragen hat, auch und besonders, was mit dem künftigen Umgang und dem Verkraften jener Zeit in Zusammenhang steht. Die Eltern selbst hatten keine Chance, dem Wahnsinn zu entkommen, was die Lektüre dieser autobiografischen Erzählung massiv erschüttert.
Wie sich das alles zugetragen hat, wie sich die abenteuerliche Flucht und das riskante Versteckspiel gestaltet haben (und mit wessen Hilfe), erzählt Rachel Jedinak sehr eindringlich und in einer bemerkenswerten Sachlichkeit. Dass sie den Kraftakt schafft, dies ohne erhobenen Zeigefinger und Anklagen zu tun, was man als Leserinnen und Leser der Autorin gerne zugestanden hätte, ist um so bewundernswerter.
Dies mag nur "funktionieren", indem sie sich in "Wir waren nur Kinder" selbst an die Hand nimmt, jenes kleine, achtjährige Mädchen von damals, um auf "der Karte ihrer Kindheit" an sich selbst und viele andere zu erinnern, was sie auch als Vorsitzende des Tlemcen-Komitees für jene Kinder tut, die nicht überlebt haben.
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