Wir Halbgötter Bekenntnisse einer Chirurgin
von Gabriel Weston
208 Seiten © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg www.rororo.de ISBN 978-3-499-62727-9
Es gibt in diesem Buch keine Einleitung. Nichts bereitet den Leser irgendwie vor. Kein langsamer Kameraschwenk, der es ermöglicht, behutsam in die Realität dieses Werkes einzutauchen. Auf den ersten Seiten findet etwas Unmittelbares statt. Wir begleiten jene junge Chirurgin, die Gabriel Weston einmal war, sofort und ohne jede Vorwarnung, auf den Boden der Tatsachen. Kein schnödes Drumherumgerede, keine pathetische Einleitung und keinerlei "göttliches" Gehabe. Sehr schnell gerät das Monument der "Halbgötter in Weiß" ins Wanken ...
Wir begleiten sie auf ihrer allerersten Nachtschicht, der sie mehr oder weniger hilflos ausgeliefert war. Der diensthabende Stationsarzt war wegen Krankheit verhindert und somit die medizinische Aufsicht nicht gegeben. Der Oberarzt sollte im Notfall gerufen werden, und dieser trat prompt ein. Der Notfallmelder zitierte sie wegen eines Unfallpatienten in den Schockraum der Notaufnahme.
Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, denn sie würde bestimmt nicht wissen, was zu tun sei. Ohne den Beistand eines erfahrenen Kollegen steigerte sich ihre Angst ins Unermessliche. Doch es sollte anders kommen als erwartet. Das Szenario gestaltete sich grausig, aber die junge Ärztin wusste sofort, was zu tun war. Die Patientin wurde in einem Nachtclub angeschossen und die erste Untersuchung deutete eindeutig auf starke innere Blutungen hin. Der sofort hinzugezogene Oberarzt zeigte sich aber als völlig inkompetent, so dass die umgehend eingeleitete Operation zur schlimmsten wurde, die sie je erlebt hat ...
Was später folgt, ist ebenfalls kein Honigschlecken, egal ob es sich um den fürchterlichen Motorradunfall von Mark handelte, der sich bei dem Sturz nicht weniger als 36 Knochenbrüche zuzog, oder das Schicksal des zwanzigjährigen Troy, zu welchem die Chirurgin eine gewisse Nähe und Verbundenheit spürte. Doch das Schicksal des jungen Menschen ist besiegelt, wobei sich das ganze Ausmaß seiner Erkrankung erst bei geöffneter Bauchdecke offenbarte ...
Viel Zwischenmenschliches hat die Autorin neben all ihrer Professionalität zu bieten. Sie erzählt vom mühsamen Abstecken und Abgrenzen ihres Lebensweges in jede nur erdenkbare Richtung. Wo ist der Mittelweg und die Verbindung zwischen Mitgefühl und der Grenze, die sie notwendigerweise zwischen sich und dem Patienten aufbauen muss? Kann und darf sie mitleiden? Ist das überhaupt erwünscht? Wie weit darf sie gehen, ohne Autorität oder im Ernstfall sich selbst zu verlieren? Welche Nähe muss oder darf sie zulassen und wo wirkt das Überschreiten von Grenzen kontraproduktiv?
Ängste, Unsicherheit, Selbstzweifel und ein pausenloses Hinterfragen der eigenen Tätigkeit und der jeweiligen Standpunkte begleiten Gabriel Weston auf Schritt und Tritt. Doch deckt sie auch verkrustete Strukturen im Kartenhaus der Hierarchien auf und relativiert auf der Sachebene deren Notwendigkeit. Gefährliche Ignoranz in durchorganisierten Tagesabläufen gefährdet eindeutig Leib und Leben nicht weniger Patienten. Junge Ärzte haben es schwer, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, denn die "Götter" wehren sich gegen die Störung durch vermeintliche "Kleinigkeiten".
In diesem Zusammenhang seien die Kapitel "Hierarchien", "Revierkämpfe", Notfälle" und "Ehrgeiz" ganz besonders empfohlen. Ein derart differenziertes Bild habe ich nicht erwartet, und wenn gleich zu Beginn das Monument der genannten Halbgötter ins Wanken geriet, so ist es am Ende in sich zusammengebrochen. Zweifellos gibt es sie, die göttlich Unerreichbaren - jene, die sich selbst auf diesen Sockel gehoben haben. Als Trugbilder entlarvt, verlieren sie aber an Größe.
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