Wie viel Medizin überlebt der Mensch?
von Dr. med. Günther Loewit
280 Seiten © Haymon Taschenbuch, Innsbruck-Wien 2012 www.haymonverlag.at ISBN 978-3-85218-917-8
"Man kann doch einen Menschen nicht einfach so sterben lassen." Dr. med. Günther Loewit glaubt eine besondere Betonung in dem Wörtchen "so" herauszuhören und erkennt in dieser einen "subtilen Vorwurf", nämlich den der "Bezichtigung unterlassener Hilfeleistung". Vertreter dieser Art Ethik sieht er in der Gesundheitsindustrie, welche Milliardenumsätze in unserer "alzheimersensibilisierten" Gesellschaft einstreicht. Eindrucksvoll beschreibt er am Beispiel der Alzheimer'schen Demenzerkrankung den kometenhaften "Aufstieg einer Erkrankung". Während die Pharmawerbebranche "Alzheimer" in Anbetracht der zu erwartenden Gewinne regelrecht "pusht", sprechen prominente Kritiker der modernen Medizin ernüchternd gar nicht unbedingt von einer Krankheit im üblichen Sinne, sondern sehen die neue Volkskrankheit einfach als normale Abnutzungserscheinung, also eine "Folge des Altwerdens des Gehirns ab dem 80. bis 85. Lebensjahr".
Die Pharmaindustrie sieht dies alles etwas anders, wobei es primär nicht nur um die Vermarktung sündhaft teurer Medikamente geht, sondern auch und insbesondere um "Heilbehelfe aller Art". Der Autor spannt den Bogen von Arbeitsplätzen in der Ergotherapie und Pflege sowie den angeschlossenen Einrichtungen bis hin zu juristischem Beistand in Sachen Patientenverfügungen, und sieht die Erkrankung somit längst als feste ökonomische Größe etabliert. Während gerade einmal 2% der Erkrankten jünger als 65 Jahre alt sind, steigt die Krankheitsrate mit zunehmendem Alter an, 20% aller 85-jährigen sind schätzungsweise erkrankt, und diese muss man mit allen zu Verfügung stehenden Mitteln am Leben erhalten, um einen maximalen Profit erzielen zu können.
Dr. med. Günther Loewit spricht sich bei Alzheimerpatienten z. B. generell gegen das Setzen von Magensonden aus, mit welchen das ohnehin nahende Lebensende noch einmal sinnlos hinausgeschoben wird, "denn die gewonnenen Lebensmonate haben keinen Inhalt und keinen Sinn mehr". Vielmehr möchte er den sterbenden Menschen einen würdigen Tod gönnen. Und dieser kommt in jedem Fall, aber nicht deshab, weil Ärzte ("als Marionetten der Pharmaindustrie") derartige lebensverlängernde Maßnahmen unterlassen, sondern weil Menschen eben sterben, "weil ihre Leben zu Ende gehen".
Neben zahllosen weiteren Beispielen beschäftigt sich der Allgemeinarzt u.a. mit weiteren kometenhaft aufsteigenden Volkskrankheiten wie Burnout oder AD(H)S. Noch vor gar nicht allzulanger Zeit wäre ein "Zappelphilipp" nicht sonderlich aufgefallen. In unser aktuelles Bildungssystem und die angeschlossenen Lernanstalten (und deren teils völlig überforderte "Pädagogen") passt ein solches Kind aber nicht mehr, wie er im Abschnitt "Normierte Kinder" eindrucksvoll beschreibt. Als Ursache findet Dr. med. Günther Loewit den Mut, das Offensichtliche anzusprechen, indem er den "fulminanten Aufstieg", den das Krankheitsbild ADHS "feiert", ursächlich in modernen Familienstrukturen vermutet, wo restlos überforderte "Multifunktionseltern" sich in Erziehung versuchen. Mit derlei Thesen wird er sich unbeliebt bei denjenigen machen, die solche Mischmodelle vehement verteidigen. Der Rezensent überlegt in diesem Zusammenhang, ob nicht ergänzend zum Begriff der Teilzeitbeschäftigung der Begriff Teilzeiterzieher etabliert werden könnte.
In seinen leidenschaftlichen Schlussplädoyers kommt der Autor sogar zu der revolutionären Erkenntnis, dass Mütter bis zum Schuleintritt ihrer Kinder wieder ein gesichertes und gesundes soziales Klima anbieten könnten, indem sie zu Hause bleiben, um somit ein unschätzbar wertvolles Fundament für die seelische Gesundheit ihrer Kinder zu schaffen. Das wird einen Aufschrei auslösen bei denjenigen, die ihr Seelenheil eher in einer beruflichen Karriere suchen. Doch mit entsprechender staatlicher Unterstützung ("mitsamt Pensionsanspruch") könnte man das Muttersein (oder Vatersein?) durchaus endlich als handfesten Beruf definieren. Und welche Karriere könnte größer sein, als gesunde Kinder in diese Welt entlassen zu haben!?
"Wie viel Medizin überlebt der Mensch?" stellt eine ganze Reihe von unbequemen Fragen. Wird unser permanent rasanter werdende menschliche Fortschritt mit immer neuen Krankheiten bezahlt werden müssen? "Wieviel Paradies auf Erden ist erträglich?" Hunger bedeutete früher den sicheren Tod (wie in der sog. dritten Welt heute noch immer millionenfach), während "Essen ohne Grenzen" heute oft den vorzeitigen Tod herbeiführt. Wen interessieren noch die Ursachen einer Krankheit? Ein gigantischer Apparat kümmert sich um die Symptombehandlung, und verdient sich dumm und dusselig damit. Altern und Sterben sind out. Der Mensch muss funktionieren, koste es was es wolle. Doch macht es wirklich Sinn, das Leben zu verlängern, selbst wenn für den Betroffenen längst jede Lebensqualität fehlt? Ist nicht Lebensqualität maßgeblich wichtiger als Lebensquantität? Macht es noch Sinn, wenn Menschen nicht an Krankheiten, sondern an Therapien sterben?
Dieses Buch wird wieder die eine oder andere kontroverse Diskussion auslösen, so viel steht fest. Man könnte und wird vermuten, dass die unterschiedlichsten Standpunkte am Ende jede Auseinandersetung mit dem Thema ohne erkennbares Ergebnis im Sande verlaufen lassen. Macht das Buch somit keinen Sinn? Könnte man in Anlehnung an den Titel sogar fragen: "Wie viel Wahrheit verträgt der Mensch?"
Sieht man es positiv, kann keine Diskussion, wie auch immer sie ausgehen möge, sinnlos sein! Schon gar nicht, wenn sie durch ein zutiefst menschliches Plädoyer, welches mit diesem Buch vorliegt, ausgelöst wird! Sollte es Dr. med. Günther Loewit gelingen, eine Reihe von Denkanstössen zu geben, das Gesundheitssystem etwas menschlicher zu gestalten oder wenigstens in Ansätzen darüber nachzudenken, wäre viel erreicht!
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