Literatur

Weitlings Sommerfrische

von Sten Nadolny


224 Seiten
© Piper Verlag GmbH
www.piper.de
ISBN 978-3-492-05450-8



Auch damals war es im September gewesen. 1958 war er 16 Jahre alt und traute sich mit einer vom "Wegmacher-Franz" ausgeliehenen Plätte auf den Chiemsee. Sein Ziel, die andere Seeseite im Westen, erreichte er nicht, da er von einem plötzlich aufziehenden Sturm überrascht wurde. Sein Boot kenterte und fast ertrank er in den tosenden Fluten. Zudem riss er sich noch seine Hand an einer herausstehenden Schraubenspitze auf. Trotz strömendem Regen erwartete ihn eine große Menschenmenge am "Wegmacherzipf".

Alle waren neugierig, ob in diesem Wrack noch jemand lebendig ans Ufer zurückkehren würde. Keinesfalls hatte der junge "Willy" Wilhelm Weitling ein für alle Mal die Nase voll von der Segelei. Ganz im Gegenteil, denn eines war damals klar: Wenn er erst einmal eigenes Geld in der Tasche hätte, würde er sich, noch vor einem eigenen Wagen, ein eigenes Schiff kaufen. Dass er mit 67 Jahren noch immer kein Boot besitzen sollte, konnte er damals noch nicht ahnen ...

Jahrzehnte sind vergangen. Dr. iur. Wilhelm Weitling ist 68 Jahre alt und hat sich seinen Traum erfüllt. Eigentlich sollte er jeden Tag segeln, statt es als Zeitverlust abzutun. Schließlich hält es ihn jung. Doch da ist etwas, was ihn warnen will. Sein Unterbewusstsein schlägt Alarm. Ist es eine Art Todesahnung? Doch der Tod kann ihn nicht schrecken. Er fürchtet ihn nicht, "eher die Plagen davor".

Seine Frau wird morgen aus Berlin zurückkommen. Astrid wird viel zu erzählen haben. Er sollte sich sputen, um den letzten Tag alleine noch einmal zu genießen. Das Wetter ist für Ende September recht gut und die Windrichtung stimmt ebenfalls. Sechs Mal war er schon alleine rausgefahren, und somit fühlt er sich sicher in der Plätte, "diesem schönen und heimtückischen Luder". Er geht auf Westkurs. Die Tür der Bootshütte lässt er offenstehen. Zu stehlen gibt es nicht viel und bald wäre er sowieso wieder zurück.

Nach einem längeren Handygespräch mit seiner Frau ist er wieder mit sich und seinen Gedanken alleine. Kinderlos geblieben, fragt er sich, ob er wohl ein guter Vater gewesen wäre. Doch nicht nur das hatte er irgendwie versäumt. "Die Idee einer Visite in der eigenen Jugend" nimmt Gestalt an. Doch ob er tatsächlich etwas ändern könnte? Schließlich könnte jeder Eingriff den Verlauf seines weiteren Lebens entscheidend ändern. Doch von der Idee, jenen "merkwürdigen Jungen" wenigstens für einen einzigen Tag einmal begleiten zu können, kommt er nicht los.

Jetzt bemerkt er eine schnelle Wetteränderung. Eine derartige Tiefdruckfront ist im Altweibersommer völlig unüblich. Die roten Uferlichter blinken um die Wette, was unmissverständlich signalisiert, sofort das Ufer anzusteuern. Leider ist die drohende, sich rasend schnell aufbauende Gewitterfront zunächst mit einer Flaute verbunden. Weitling holt das Segel ein und rudert um sein Leben, denn er weiß, was ihm blüht. Unvermittelt baut sich der Sturm auf und lässt die Wellen wachsen.

Blitz und Donner entfachen ein Getöse, die aber den Dieselmotor des Rettungskreuzers nicht übertönen können, der offenbar bereits nach ihm sucht. Plötzlich gibt es einen lauten Knall und ein blaues Leuchten, gefolgt von einem grellen Licht. Das muss der Blitz gewesen sein. Ein dirketer Treffer und er mittendrin. Doch wo sind die Retter? Der Seenotkreuzer ist plötzlich nicht mehr da. Wahrscheinlich untergegangen ...

Wer hat nicht schon einmal daran gedacht, die eigene Jugend noch einmal erleben zu dürfen!? Was man alles ändern könnte, mit dem Wissen von heute. Wäre man früher so schlau wie heute gewesen, hätte man Fehler vermeiden und völlig andere Lebenswege wählen und gestalten können.

Die Problematik der Umsetzung dieser Gedanken hat Sten Nadolny sehr eindrucksvoll in seinem neuen Roman "Weitlings Sommerfrische" in Szene gesetzt. Die philosophische Zeitreise entwickelt sich zu einem sehr ungewöhnlichen Leseabenteuer, denn nicht nur seine Figur des Richters a.D. Wilhelm Weitling gelangt, indem er sich selbst in seiner Jugend und sein mitunter unbegreifliches Verhalten begleitet, zu ganz neuen Erkenntnissen, sondern auch die staunende Leserin und der ebenso faszinierte Leser!

Neben den Konsequenzen der Reise, die sich für Weitling in der Gegenwart ergeben (könnten), bemerkt der aufmerksame Leser ebenfalls (mögliche) Veränderungen in seiner eigenen Biogafie, je nachdem von welchem Standpunkt man diese betrachtet.

Die zu Beginn des Romans in Rückblenden kunstvoll eingewobene Jugend Weitlings stellt eine Verbindung mit der ursächlichen Vergangenheit her. Diese Einheit wird jedoch grundlegend erschüttert und in Frage gestellt. Die Gegenwart gerät ins Wanken. Eingreifen kann er als "Körperloser" in der Vergangenheit nicht. Auch keine Dialoge führen, nichts verändern - und nicht einmal riechen kann er. Obwohl er wenigstens dies gerne getan hätte. Die vertrauten Gerüche von damals, wie zum Beispiel der Plattenspieler nach den Musikabenden, der dann immer nach warmem Lötzinn gerochen hatte. Schwerer noch wiegt die Frage, ob er jemals wieder in die Gegenwart zurückkehren kann - ausbrechen, aus diesem "Jugendarrest für Senioren".

Sten Nadolny erzählt eine ebenso phantastische wie tiefgreifende Geschichte um das Leben eines Menschen und zugleich um das Leben selbst. Hilflos steht man seinem Schicksal auch in jungen Jahren gegenüber, wie es scheint. Präzise webt der Autor einen Teppich aus Erinnerungen und unterzieht das Muster einer vielschichtigen Prüfung. Das kann wirklich spannender nicht sein! Fast sachlich nüchtern nähert er sich schließlich einem Höhepunkt der Reise: Plötzlich scheint eine Kontaktaufnahme möglich zu sein ...!

Doch es ist nur einer von vielen Höhepunkten. Großartig - und mit Sicherheit eines meiner Bücher des Jahres 2012!

 

Thomas Lawall - August 2012

 

 

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