Walt
von Russell Wangersky
304 Seiten Deutsche Erstausgabe August 2016 © 2014 Russell Wangersky © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag www.knaur.de ISBN 978-3-426-51742-0
Es gibt viel zu viele Menschen, die ihren Eltern die Schuld geben, wenn in ihrem Leben einiges nicht so läuft, wie es laufen könnte. Ob etwas aus ihren Kindern wird oder nicht, hätten sie zu verantworten. Walt ist anderer Meinung. Bestes Beispiel wäre seine eigene Familie, und da hätte es unterschiedlicher nicht laufen können.
Vater Lastwagenfahrer, Mutter Hausfrau, und trotzdem schafften es seine zwei Brüder in die Oberliga. Der eine Linguistikprofessor, der andere Unternehmer im Bereich Baufahrzeuge. Walt brachte es nur zum Hausmeister in einem Supermarkt. Der Vater starb pünktlich zum Beginn seiner Rente, und seine Mutter folgte ihm nach "drei einsamen, hilfsbedürftigen Jahren".
Walt liebt seinen Job. Nirgendwo kann er die Menschen besser beobachten als dort, wo sie ihren täglichen Bedarf an Lebensmitteln decken. Niemand ahnt, wie genau er das tut. In seiner Arbeitskleidung wirkt er auf die Menschen mehr als neutral und unbeteiligt. Fast scheint er unsichtbar zu sein. Doch der Schein trügt. Er studiert die Menschen und ihre Eigenarten. Kennt ihre Vorlieben, ihre Wege durch die Regalschluchten und zieht daraus erstaunliche Schlüsse. Eine große Hilfe sind ihm auch die achtlos weggeworfenen Einkaufszettel, die ihm, nach genauer Analyse, nahezu alles verraten.
Russell Wangersky entwirft ein beängstigendes Szenario. Allein, indem er von gewöhnlichen Mustern des Genres abweicht, und die Dinge aus einer völlig anderen Perspektive erzählt, erzeugt er Spannung in ungewohnter Dosierung. Leserinnen und Lesern verabreicht er lediglich jeweils Spurenelemente und lässt sie auf ganz kleiner Flamme kochen. Man ahnt schnell, dass womöglich auf Seite 100 immer noch "nichts passiert" ist. Jedenfalls im herkömmlichen Sinne.
Das bestätigt sich, jedoch steigen, im Gegensatz zu Walts beschaulichen, scheinbar unspektakulären Lebensbetrachtungen, bitterböse Vorahnungen in entgegengesetzte Richtung. Etwas stimmt hier nicht. Walt lebt nach außen hin ein völlig normales Leben. So normal, dass man ihn in der Gleichförmigkeit des Alltags gar nicht wahrnimmt. Unsichtbar eben.
Walts Frau ist verschwunden, ebenso ein junges Mädchen. Andere fühlen sich ständig beobachtet, behaupten sogar, dass jemand ihre Häuser betreten hat. Doch es fehlen sowohl Leichen, eventuelle Motive, Beweise sowie jedwede Spuren oder Hinweise auf mögliche Täter. Das müssen auch Inspector Hill und Sergeant Scoville, die auf verlorenem Posten in der neu gegründeten Abteilung für ungelöste Kriminalfälle ihr Dasein fristen, sehr bald erkennen.
Russell Wangersky präsentiert, ohne jede Konkretisierung, schon zu Beginn einen Täter. Doch was soll dieser getan haben? Auf die übliche Einstiegsaction verzichtet der Autor völlig. Er rollt das Feld sozusagen von hinten auf. Sehr ungewöhnlich. Sehr spannend. Doch es verlangt Lesern Geduld ab. Aber was soll's - die hat Walt schließlich auch!
|