Literatur

Vera - Eine Erinnerung

von Susanne Röckel


158 Seiten
© 2025 Residenz Verlag GmbH
www.residenzverlag.com
ISBN 978-3-7017-1809-2



Im Alter von 14 Jahren hatte die Autorin, gelinde gesagt, gewisse Probleme, die weit über das hinausgingen, was sie damals auch nur ansatzweise verstehen konnte.

"Jenes geisterhafte Teenager-Ich" trieb sie zu einer Verzweiflungstat, welche sie ebenfalls in ihrer Tragweite nicht gänzlich begreifen konnte. 50 Jahre später sieht sie die Dinge anders, denn da erfuhr sie die Geschichte einer anderen, für sie sehr bald maßgeblichen Person.

Sie gab ihr den Namen "Vera", welche aus guten Gründen 1968 in Darmstadt ihren Weg kreuzte. Ihre Gedanken, die um eine diffuse Dunkelheit kreisten, erzeugten damals abgründige Ahnungen. Sie glaubte, etwas zu spüren

"... von jenem Schrecken, der noch keine Form und keine Sprache hatte, aber mächtig genug war, um Beunruhigung auszulösen, Angst auszulösen, Schlaflosigkeit."

Jenes "Schattenwesen", das in sie "einfiel", wollte sie dazu überreden, "in der Nähe zu bleiben...", auch wenn es ihr völlig klar ist, dass die Geschichte ihrer pubertären Irrungen und Wirrungen im Vergleich zu Veras ungeheurem Schrecken gerade mal als eine unwesentliche Randnotiz gewertet werden kann.

Dina Pronitschewa, die sie Vera nennt, trat im Callsen-Prozess, 1968 in Darmstadt, als Zeugin auf. Sie überlebte unter unvorstellbar grausamen Umständen das Massaker von Babyn Jar in der Ukraine vor den Toren Kiews.

Susanne Röckel wagte das Experiment, nicht nur aus dem Protokoll ihrer Aussage zu zitieren, sondern jene Zitate mit ihrer eigenen und der nachempfundenen Geschichte der 1977 verstorbenen Überlebenden zu verweben. Ihre eigenen Vorstellungen stellt sie hierbei unzweifelhaft infrage, Veras allerdings nicht, auch wenn deren Befindlichkeiten "nur" in ihrer Vorstellung existieren.

"Sie weiß, dass sie nicht träumt."

Mit diesen scheinbar unvereinbaren Widersprüchen müssen sich Leserinnen und Leser auseinandersetzen. Aber Susanne Röckel geht noch viel weiter.

Wie muss es für Vera gewesen sein, in das Land der Mörder einzureisen? Allein die Passkontrolle am Flughafen Frankfurt und das Abholen durch einen Fahrer und einen Abgesandten des Gerichts, die sie in ein Frankfurter Hotel und am nächsten Tag nach Darmstadt begleiteten, muss eine Flut von Erinnerungen und Assoziationen ausgelöst haben.

Susanne Röckel ging das Wagnis ein, genau dieses nachzustellen. Einen Beweis für den kurzen Blickkontakt an jener Kreuzung in Darmstadt gibt es nicht, doch aus gutem Grund bleibt sie dabei.

"Ich rücke nicht davon ab. Ich will, dass es diesen Blick gegeben hat, der mich mit ihr verbindet, mein Leben im Nirgendwo mit ihrer Geschichte verknüpft..."

Eine vielleicht seltsam ungewohnte Mischung auf den ersten Blick, aber ein faszinierendes literarisches Experiment auf den zweiten. Deshalb hat die Autorin ständig auch den Sinn des Ganzen im Fokus und sie hinterfragt sich selbst, um Wege zu finden, die eine Begegnung, die niemals stattfand, zu rechtfertigen.

Immerhin hätte es ja wirklich sein können, sich an jener Kreuzung tatsächlich über den Weg gelaufen zu sein. Zumindest der Zeitrahmen passte und immerhin hat dieses imaginäre flüchtige Zusammentreffen eine ungeheure Wirkung entfacht.

Was bleibt, ist vielfältig und angesichts dieses literarischen Schwergewichts kaum oder nur vage zu beschreiben und in Worte zu fassen. Neben einer kaum fassbaren Betroffenheit steht gleichberechtigt die Bewunderung für eine derart kunstfertige Verschränkung der Ereignisse, der schonungslosen Auseinandersetzung mit sich selbst, deutscher Geschichte und die Erinnerung an eine Frau, die Unsägliches überlebte.

"Als ich die Luft spürte, bekam ich wieder Lust zum Leben."

 

Thomas Lawall - Oktober 2025

 

 

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