Unter Wasser ist es still
von Julia Dibbern
382 Seiten © 2024 by Limes www.limes-verlag.de ISBN 978-3-8090-2777-5
Unter Wasser soll es "still" sein? Ganz und gar nicht, denn bereits als Achtjährige fragte Maira ihre Mutter: "Warum knistert es unter Wasser?" Nachzulesen in den vielen Briefen, die sie ihrer Tochter geschrieben hat. Womöglich seien es Schalentiere, die für diese Klänge verantwortlich seien. Mutters Erklärung provozierte sofort Mairas nächste Frage: "Unterhalten sie sich so?"
Was für eine Wohltat dieses Buch ist! Nach einem entsetzlich blassen und leblosen Roman, den sich der Rezensent unlängst freiwillig angetan hatte, ist dieses Buch eine wahre Offenbarung. Schon die ersten Zeilen verursachen eine Gänsehaut nach der anderen, ein Versinken in eine Geschichte, die mit einem Rückblick beginnt. Maira ging noch zur Schule, doch ihr Alltag unterschied sich von jenem der anderen Kinder erheblich.
In der Gegenwart lebt Maira in Frankfurt und arbeitet mit Meisterbrief in einem kleinen Betrieb für Möbelrestaurationen und Innenausstattungen. Ihr Reich und ihr Leben ist die Werkstatt. So auch an jenem 23. Mai, dem Todestag ihrer Mutter. Doch an diesem Tag wird der "Damm zwischen dem Alltag und dem, was im Schlick ihres Unterbewusstseins schwelt" brüchig.
Ihr Chef schätzt ihre Arbeit und ihr Engagement für seine Firma sehr und macht ihr auf seine alten Tage ein unerwartetes Angebot. Ob Maira an einer Übernahme des Betriebes interessiert wäre, muss sie sich gut überlegen. Eine Kreditaufnahme wäre unvermeidlich, was, dank einer Sicherheit, kein Problem wäre. Schließlich steht Mutters Haus seit längerer Zeit leer.
Da ein Investor Interesse zeigt, macht sich Maira auf den Weg nach Soeterhoop. Zum letzten Mal will sie das Haus, das Gartenhäuschen und die Obstbaumwiese noch einmal sehen, nicht zuletzt um zu prüfen, ob denn der angebotene Preis in Ordnung wäre.
"Einmal noch und dann endlich endgültig gehen lassen."
Julia Dibbern schreibt in einer Sprache, die alle Sinnesorgane aktiviert. Nacheinander und nicht selten gleichzeitig. Es sind Worte, die riechen, schmecken, hören, fühlen, leuchten und weit in alle Richtungen sehen. Es sind unzählige kleine Wunder aus Leben und Erleben, die uns glücklich machen können, aber auch das Gegenteil nicht wegwischen. Wer in sich hinein hören kann, wird diese Stationen kennen, die keine Um- oder Rückkehr mehr erlauben.
Die Worte der Autorin laden zum Verweilen ein, keinesfalls zum Überfliegen. Zu viel würde überlesen oder gar verloren gehen. Leider kann sie die atmosphärische Dichte nicht durchgehend halten. Ein weiterer Wermutstropfen: Leserinnen und Leser ahnen viel zu früh, wie sich Mairas Entscheidung, welche von zentraler Bedeutung ist, gestalten wird. Spannend bleibt es trotzdem, denn es gilt ja auch zu erfahren, wie sich der Tod der Mutter, sowie die näheren Umstände davor und danach, gestaltet haben.
Ein ums andere Mal wird man auf die Nebengleise eigener, längst vergessener, Erinnerungen gelockt. Auch Mairas ambivalentes Seelenleben kommt einem doch irgendwie bekannt vor. Es sind jene Tage und Situationen, die zahlreiche Fragen stellen, aber ohne eine Antwort auskommen müssen.
"Das ist das Problem, wenn man gleichzeitig einen ewigen Fluchtinstinkt und Angst vor Veränderungen mit sich rumschleppt".
"Unter Wasser ist es still" erzählt vom Brechen "emotionaler Deiche", Rettungsringen aus Sachlichkeit und wie sich das überhaupt so mit dem "Ankommen" und dem "Loslassen" gestalten kann.
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