Literatur

Unsicherer Grund

von Andreas Neeser


104 Seiten
©2010 HAYMON Verlag, Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at
www.andreasneeser.ch
ISBN 978-3-85218-635-1



Auch das muss es geben. Dies hier wird nämlich keine Rezension, wie sie sich geziemt. Eher eine Liebeserklärung. Oder so ähnlich. Jedenfalls so etwas in der Art. Ähnlich unbeholfen wie beim ersten Liebesbrief. Damals, als man die richtigen Worte allenfalls erahnen konnte. Schrieb man nicht permanent um den heißen Brei herum? Versuchte man nicht, konkrete Satzaussagen in blumigen Wortgebilden indirekt zu verschleiern? Holte man nicht ständig die Sterne vom Himmel, statt sich ihrer einfach nur (gemeinsam) zu erfreuen? Wähnte man nicht ständig, Unmögliches zu erschwärmen? Log man, in liebevoller Absicht, den blauen Himmel in die Knie? War sie nicht einfach herrlich, diese Unsicherheit? So, oder ganz anders ergeht es mir mit diesem Buch. Ich schlage es auf und plötzlich wachsen totgeglaubten Erinnerungen Flügel ...

Was ist es nur, was gewisse Bücher von anderen unterscheidet? Was bitte genau? Was nur? Fängt es nicht schon beim Titel an? Zielorientiert soll er neugierig machen und möglichst viele Türen öffnen. Doch wer wagt sich ausgerechnet auf "unsicheren Grund"? Gehört sich das? Die Menschen wollen doch Sicherheit und solide Fundamente. Etwas, worauf man aufbauen kann. Bodenständig. Geradeaus. Und sie wollen Geschichten mit einer anständigen Einleitung, einem knackigen Hauptteil und selbstverständlich einem ebenso glücklichen wie verständlichen Schluss. Abgehakt. Weg das Buch. Ins Regal. Bücher einer Ausstellung. Doch diese Bücher sterben. Die zu Ende erzählten Geschichten ersticken im eigenen Verrat. Zum Tode verurteilt. Um ihrer selbst wurden sie geschrieben und sie drehen sich im Kreis, denn niemals kann ihre Geschichte neu oder anders erzählt werden. Schnell verblasst die Erinnerung an sie. Den Staubtod werden sie sterben ...

Den Tod durch Vergessen wären auch jene Bücher gestorben, die Schwimmmeister Alois aus Antiquariaten zu retten gedenkt. Er hat zwar kein Interesse, die zahllosen Bücher zu lesen und doch treibt ihn ein unaussprechliches Verlangen, möglichst alte Schriften aus ihrem Schattendasein zu befreien. Inhalte können ihn nicht befriedigen, denn für ihn zählen andere Prioritäten. Es ist das alte Papier, was ihn fasziniert, der individuelle Geruch, welcher sich im Falz besonders charakteristisch zeigt, und die ausgebleichten Farben ... "Das ist Chemie, so viel Leben". Bereits die erste Geschichte pulsiert, lebt und elf Seiten lang gehen wir mit Ida und Alois durch eine Momentaufnahme ihres Lebens. Aus der Distanz beobachten wir die getrennten Wege der Verirrten, die sich in den dunklen Ecken des Lebens verlaufen haben. Einerseits verzettelt in nie gelebter Eigenständigkeit und andererseits in einer Art Zwang-Haft, auferlegt von der todkranken Mutter und Schwiegermutter. Das alte Lied von Krankheit und Macht. Oft über den Tod hinaus. Ein Gefängnis ohne Mauern und Gitterstäbe. Wohin sollte man auch entkommen? Gibt es einen Weg? Ja! Die Aussichtslosigkeit ist endlich. Man kann sie besiegen. Der Pfad dorthin ist unerforscht aber schnell erreichbar. Alois findet ihn. Und in seinem Fall hat es viel mit einem Datum zu tun ...

Jonas nimmt Abschied vom Elternhaus, die Wohnung soll offenbar neu vermietet werden. Er verabschiedet sich von seinen Erinnerungen und er denkt an seinen Vater, der jetzt glücklich ist und keine Schmerzen mehr hat. "Von Fenster zu Fenster" fliegen diese Worte, ähnlich wie "Damals an Ostern", wenn es flüchtig nach einem "alten Sommer riecht". Auch in dieser Erzählung dominiert die Melancholie des Abschieds - diesmal von der Geliebten. "Zwei Väter - wie wäre das auszuhalten gewesen?" Federleicht trägt Andreas Neeser die Standbilder des Lebens weiter, von einer weisen Sicht der Dinge emporgehoben und geschützt. Kein Versinken in bodenlose Schwermut scheint die Devise, sondern einfach nur das große Tor durchschreiten, in eine offene Zukunft, die noch er- und gelebt werden will.

"Seesicht": Hausmeister und Gärtner Eggenberger hat es aufgegeben, gegen den Müll zu kämpfen, den ihm die Schüler täglich hinterlassen. Es ist aussichtslos, "für eine saubere Welt zu kämpfen. Ein Leben in Schadensbegrenzung." Doch man wird sich an ihn erinnern ... oder an jenes schöne Mädchen, die zu den Wesen gehört, die Traum und Realität zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen, Erwartungen wecken und sterben lassen können. Gedanken lernen fliegen, am schweizerischen Obersee ...

Die fünfte Erzählung lässt Streiflichter vom portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa aufblitzen. In diesem zu einem Theater umfunktionierten Gemüseladen erzählt "Bernardo Soares" von seiner "angeborenen Trunkenheit". Er erkennt, dass er nie gelebt hat. Ständig nur "hin und her gereist sei zwischen dem, was er sehe, und dem, was er fühle". Bleibt am Ende alles eine "Summe von Unterwerfungen?" - Doch eine konsequente Orientierung nach innen kann auch Gutes bewirken. Noch dazu das Glück einer überstandenen Operation ... "Und das Meer lag nicht vor Lissabon".

Eine weitere auseinandergelebte Beziehung beschreibt "Einsame Magier". Einst sah man sich zu, doch längst hat man das Staunen verlernt. Es wird immer das gleiche Programm gegeben und trotz gelungener Aufführung der Applaus nicht verdient. Bleibt wieder nur der Ausweg in Erinnerung und Traumtanz ...?

Ist es Mozarts Serenade "Gran Partitia", die wir in einer völlig frei gewählten Interpretation auf einem "Stück Land wie ein Finger" erleben dürfen? Gewissheit gibt es auf unsicheren Gründen niemals und in der vorletzten Geschichte sowieso nicht. Die Gedanken sind frei und grenzenlos, denn so weit sind wir schon gelaufen und so weit werden wir noch gehen. Zweifellos befindet sich der Autor in England und zwar dort, wo das Land einfach aufhört. Land's End (wenn ich nicht irre), seine gefährlichen Untiefen und den Longship Leuchtturm im Blick, wandern seine Worte weiter über die Landzunge "nirgendwo hin" und lauschen dem Konzert der Möwen, die vielleicht vom Anbeginn der Dinge singen mögen - dem großen Auftakt. Möglicherweise schicken sie uns eine Warnung ... einen Gruß, oder ist es doch nur "ein Scherz im Übermut"? Letztlich ist es nicht wichtig, nicht wirklich von Belang. Es wird kalt. Wolken ziehen von Süden her - "Der Himmel ist geballtes Tuch".

Das Buch endet "Da, wo alles angefangen hätte" ... und verliert sich scheinbar in der eigenen Möglichkeitsform. Hört einfach auf. Geht aber weiter. Denn es kommt noch so viel und die Wege sind vielfältig und ohne Zahl. Genauso wie die Wahrheiten. Wir haben die Wahl ...

Wenn sich im Tsunami der sechsstelligen jährlichen Neuerscheinungen ein Buch mitten in die Brandung zu stellen vermag, ohne einfach fortgespült zu werden, dann ist das schon ein kleines Wunder. Dieses Buch lebt. Es atmet. Es schwingt, klingt und singt uns Lieder aus Erinnerung, Angst, Freude, Hoffnung, Freiheit und ganz viel Leben. Andreas Neeser wiegt ab, feilt und hobelt an seinen Erzählungen, bis sie von jedem unnötigen Ballast befreit sind. Wie ein Bildhauer mag er seine Betrachtungen sehen, die im Fels einer unfertigen Idee eingeschlossen sind und auf ihren Retter warten. Die Angst vor dem Leben hat kurze Beine, so lernen wir. Bequem und faul und leicht zu besiegen. Die Individualität des Individuums mag auf unsicherem Grund stehen, doch das Leben weiß sich zu helfen. Geht weiter. Einfach so, als wäre nichts geschehen ...

"Unsicherer Grund" ist schon heute mein Buch des Jahres 2010. Es gibt unzählige Bücher auf diesem blauen Planeten - aber nur wenige wunderbare!

 

Thomas Lawall - Mai 2010

 

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