Literatur

Unschuldsengel - Kappes neunter Fall

von Petra A. Bauer


206 Seiten
1. Auflage 2009
© 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin
www.jaron-verlag.de
www.writingwoman.de
ISBN 978-3-89773-602-3



Während den Mahlzeiten zu sprechen, ist bei Familie Kowalewski strengstens untersagt. Und das hat handfeste Gründe, denn wegen eines solchen Vergehens hatte sich einst eine Großtante derart verschluckt, dass sie der Tod durch Ersticken ereilte. Umso schlimmer gestalten sich die Auswirkungen der Äußerungen von Minas jüngstem Bruder Friedrich, der Skandalöses zu verkünden hat. "Der feine Schnösel hat unsere Mina jeküsst!" Minas Vater, ein gütiger Mann, der seine Kinder über alles liebt und es deswegen an der mitunter notwenigen Härte fehlen lässt, ist nunmehr ernsthaft entsetzt. Doch mehr als ein "Ich bin sehr enttäuscht" kommt nicht über seine Lippen und er straft seine Tochter mit eisigem Schweigen. Die wahre Moralpredigt übernimmt die Mutter. Das "Poussieren" von ehrbaren Töchtern mit jungen Männern gehöre sich nicht und überhaupt könne es mit so einem nicht gutgehen. "Der vergnücht sich mit dir, und heiraten tut er 'ne andere. Die dürfen sich doch ja nich unter ihrem Stand vaehelichen ...".

Ganz ähnliche Probleme hat der vermeintliche Märchenprinz Siegfried, Sohn des Industriellen Adalbert Plath. Diesem Mann stehen ganz andere Druckmittel zur Verfügung, denn er droht seinem Sohn mit Enterbung, sollte es sich auf eine Beziehung mit einem mittellosen Mädchen aus einer kinderreichen Familie abzugeben gedenken. Stattdessen möchte er seinen Stammhalter mit einer Cousine verkuppeln. Siegfried gibt Mina vor, sich wehren zu wollen, doch letztlich fehlt es ihm aber an Mut, weshalb er die Beziehung zu ihr aufkündigt. Zu Tode betrübt verlässt Wilhelmina Kowalewski die Niederlausitz und ihren Heimatort "Bückchen" Grube Ilse-Bückgen. Sie gibt vor, in Berlin nach Arbeit zu suchen, doch in Wahrheit flieht sie vor ihrem Kummer ...

Dr. Kniehase zählt bis Fünfzehn. Ein Jahr zuvor, man schrieb das Jahr 1925, zählte er bei einem ähnlichen Mord acht ordentliche Löcher. Im April 1926 waren es dann schon elf Stiche und nun das. Die Steigerung ist enorm, was gewisse Rückschlüsse auf den geistigen Zustand des Täters erlauben könnte. Zudem geht Kniehase davon aus, dass die brutalen Stichverletzungen in allen Fällen nicht zum Tode führten, was wiederum zu gewissen Vermutungen Anlass gibt. Die Vermutung liegt nahe, dass alle Opfer noch lebten, bevor der finale Schnitt durch die Kehlen das Leben der jungen Damen endgültig beendete.

Es ist nicht die erste Leiche, die Hermann Kappe sieht, doch die unglaubliche Brutalität des Täters schockiert den Oberkommissar. Ganz anders Kollege Galgenberg: "Noch drei Löcher mehr, und die Dame hätte 'nen prächtjen Jolfplatz abjejeben. Bloß mit det Jrün hautet nich so janz hin." Kappe toleriert, wenn auch mit Mühe, die mitunter geschmacklosen Ausbrüche seines Kollegen. Die dringend notwendige Distanz zu den Dingen definiert jeder auf seine Art. "Uff den Schreck 'nen Schnaps, Kolleje?" "Mensch, Galgenberg, wir sind im Dienst!"

Rückblende: Tag um Tag füllt sich das Pulverfass im Jahre 1909. Hilflos ist der Junge der blinden Wut des Vaters ausgeliefert. Die Schläge wollen nicht enden. Auch seine Mutter wird nicht verschont. Geschlagen, getreten und gewürgt stürzt sie zu Boden, dann saust der Stuhl auf ihren Kopf. Doch selbst dann lässt sein Vater nicht von ihr ab. Und er muss alles mitansehen ...

Nun, ich begann die Lektüre mit außerordentlich gemischten Gefühlen. Eine besonders hohe Erwarungshaltung war nicht vorhanden. Vielleicht lag es daran, dass ich in jüngster Zeit zu viele Geschichten mit überlangen Einleitungen gelesen habe, die mehr oder weniger behutsam auf die Handlung vorbereitet haben. Vielleicht dachte ich aber auch, ein Roman, der im Jahr 1926 angesiedelt ist, kommt zweifelsfrei etwas biederer zu Papier. So ein naiver Unsinn aber auch. Als ob die Mörder damals die besseren Menschen gewesen wären! Das kann auch nur mir passieren. Möglicherweise kam ich auch beim Stichwort "Kettenroman" ins Schleudern. Na ja, die achte Fortsetzung einer Romanserie, die mit dem ersten Band "Kappe und die verkohlte Leiche" (1910) begann, kann ja so aufregend sicher nicht sein. Ob der neunte Fall nicht zum Gähnen reizen würde oder gar ein wahrhaftiger Rein-Fall wäre?

So kann Mann sich irren. Das habe ich nicht erwartet. Es brodelt schon auf der ersten Seite! Ja, es kocht bereits. In den ersten Zeilen allerdings noch verhalten bis klammheimlich. Sehr leise und zunächst noch zwischen den Zeilen bahnt sich jedoch unzweifelhaft eine Tragödie an. Der Hauch des Grauens verdichtet sich in eine unheilvolle Ahnung, bis sie zu einer schrecklichen Gewissheit wird. Zu Beginn von Petra A. Bauer auf eine völlig falsche Fährte geführt, vergeht uns die Lust auf voyeuristische Blicke durch das Schlüsselloch einer Schlafzimmertür sehr schnell, denn aus der vermeintlichen Romanze wird blutiger Ernst ...

Petra A. Bauer erzählt uns Kappes neunten Fall im Berlin der 20er Jahre. Was mit Horst Bosetzkys "Kappe und die verkohlte Leiche" 1910 begann, findet 16 Jahre später eine gnadenlose Fortsetzung. Was dazwischen geschah, kann ich nicht ermessen, da mir die Serie bis heute völlig unbekannt war. Ich kannte weder die von Horst Bosetzky entwickelte Figur des Hermann Kappe, noch waren mir Kettenromane überhaupt ein Begriff. Die von verschiedenen Autoren weiterentwickelte Figur agiert vor jeweils authentischem historischem Hintergrund und klärt Kriminalfälle im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts auf. 1926 ist das Jahr der dritten Funkausstellung und der Einweihung des Berliner Funkturmes, auch "Langer Lulatsch" genannt. Die SPD tapeziert die Stadt mit Plakaten, die zum Volksentscheid in Sachen Fürstenenteignung aufrufen. Josefine Baker löst mit ihrem Auftritt im Nelson Theater einen Skandal aus, in Berliner Straßenbahnen sollen endlich Heizungen eingebaut werden und Josef Goebbels wird zum Gauleiter der Berliner NSDAP gewählt ...

Die Autorin fesselt mich mit hintergründigem Witz, zeitgenössigem Tiefgang, einem untrüglichen Gefühl für gnadenlosen Spannungsaufbau, und einer herzerfrischenden Berliner Schnauze an ihren "Unschuldsengel" ...

... und führt mich gleichzeitig in Versuchung, ins Jahr 1910 zurückzureisen. Damals war Kappe noch als Kriminalassistent beschäftigt, wenn ich nicht irre ...

 

Thomas Lawall - Februar 2010

 

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