Literatur

Und der Duft nach Weiß

von Stefanie Gregg


320 Seiten
Originalausgabe bei Forever.
Forever ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Juni 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
ISBN 978-3-95818-045-1



1975 ist Anelija 5 Jahre alt. Sie ist in ihr Spiel auf einem großen Steinhaufen vertieft und versteht nicht, weshalb ihre Großmutter, ihre geliebte Baba, sie drängt, sich ausgerechnet heute von ihrer Mutter zu verabschieden. Sie ist doch sowieso kaum zu Hause, weil sie dauernd zur Arbeit muss. Verwunderlich ebenfalls, dass ihre Mutter Tränen in den Augen hat, als sie ihr noch einmal zuwinkt, bevor sie in den Bus steigt. "Warum weint sie denn? Meine schöne, junge Mama." Anelija kann zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, dass es eine ganze Weile dauern wird, bis sie ihre Mutter wiedersehen würde.

Immerhin hat sie nun drei Mamas. Ihre richtige hat sich nach Deutschland abgesetzt, nachdem sie einen Mann kennenlernte, der ihr eine Arbeitsgenehmigung besorgte, und ab sofort kümmern sich ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter um die zu übernehmenden Aufgaben, was nicht unbedingt von Nachteil ist. Das resolute Wesen ihrer Urgroßmutter - Baba Milena - die einst ihren ewig betrunkenen und gewalttätigen Mann hinauswarf, bleibt nicht ohne Einfluss auf sie. Trotz der Hänseleien in der Schule wird sie stets Klassenbeste sein und ihre Wissbegierde sollte sich stetig steigern. Selbst "der Gang aufs Klo" ist für Anelija eine "Leseschule", begründet durch die vielen Zeitungsblätter, die man durchaus, vor dem zugedachten Verwendungszweck, lesen kann.

Doch die Sehnsucht nach ihrer Mutter, "nach den ersten Tagen des endlosen Weinens und nächtelangen Schreiens", bleibt nicht aus. In unregelmäßigen Abständen schreibt sie. Die Ankunft ihres ersten Briefes erregt großes Aufsehen und wird wie ein Fest gefeiert. Selbst der Briefträger ist wie von Sinnen, schummelt sich mit ins Haus, um ja nichts zu verpassen. Nadja geht es gut. Sie arbeitet im Büro der Firma ihrer Schwiegereltern und wohnt mit ihrem Mann in deren Haus. Und einen Opel würde er haben, der ihm ganz alleine gehört.

Stefanie Gregg erzählt die rührende Familiengeschichte vor dem Hintergrund des Mordes an Georgi Markow am 7.9.1978 durch den bulgarischen Staatssicherheitsdienst, der vom russischen KGB unterstützt wurde. Der realen Figur des bulgarischen Schriftstellers, der nach seiner Emigration nach England weiterhin den kommunistischen Staatschef Todor Schiwkow und dessen Regime kritisierte, stellt sie die fiktive Figur der Anelija, stellvertretend für das Schicksal eines Menschen zu jener Zeit, gegenüber. Doch auch hier wurzeln Idee und Ausführung des Romans in realen Geschichten einer Bekannten der Autorin, die ihr von ihrer bulgarischen Kindheit erzählte, wie in einem Interview mit der Schriftstellerin nachzulesen ist.

Nicht ohne Absicht stellt Stefanie Gregg die beiden Schicksale in Rückblenden immer wieder gegenüber, um die jeweiligen Ereignisse und Zeitebenen in eine wechselseitige Beziehung treten zu lassen. In ihrer Heimat hörte Anelija nie etwas von Markow, doch in einer anderen Zeit, in einem anderen Land und an unerwarteter Stelle entdeckt sie ihn in einem Bücherregal. Und sie wird noch mehr entdecken und erfahren.

Auch andere historische Daten wie den Mauerfall, die Endphase des kommunistischen Systems in Bulgarien und den damit verbundenen Fall Todor Schiwkows, oder die Vertreibung von 350.000 bulgarischen Türken, streift die Autorin und weckt Erinnerungen an jene Zeit des Umbruchs, baut aber auch eine Brücke in die aktuelle Situation der Flüchtlingsproblematik, welche einerseits kaum vergleichbar ist, andererseits durch die Erkenntnis, dass sich hinter jedem Flüchtling ein Einzelschicksal verbirgt, begreifbarer wird.

Zu welch gewagten Mitteln Flüchtlinge aus der DDR einst griffen, ist bekannt, und zu welchen Schritten sich die 17-jährige Anelija entscheidet, die einerseits von jugendlicher Naivität aber auch von Entschlossenheit zeugen, kann spannender nicht erzählt werden. Fast noch spannender sind ihre Eindrücke vom gelobten Land, "schnurgerade Autobahnen, glatt geteert, ohne Löcher darin", und auch Kleinigkeiten, wie ein Gang zur Toilette, können Überraschungen bringen. Fast schämt sie sich, in dieser sauberen Aufgeräumtheit Platz zu nehmen. Man muss nicht einmal das Haus verlassen. Und dann das Papier, "weiß wie die Wolken", "seidenweiches Wattepapier, ohne Worte dazwischen".

Die ganz große Leinwand öffnet Stefanie Gregg dann mit dem Wiedersehen von Anelija und ihrer Mutter, wofür sie aber nur wenige Zeilen benötigt. Um so größer die Wirkung. Viel zu jung war sie damals, erst 17 Jahre alt, weshalb ihre Mutter und Großmutter von Beginn an die eigentliche Erziehungsarbeit übernahmen und plötzlich steht ihre eigene Tochter, so alt wie sie damals, unangekündigt vor der Haustür! Im ersten Moment erkennt sie sie gar nicht. "Ja?" fragte sie, nachdem sie die Haustür öffnete ...

Große Momente erzeugt sie auch in der Beschreibung nonverbaler Szenen, wenn sich Menschen verstehen, ohne etwas zu sagen. Bestes Beispiel mag meine Lieblingspassage sein, "eine Stille", in der eine nicht ausgesprochene Frage schwebt und wo sich einmal mehr herausstellt, dass Anelija mit ihrem Mann Enno den Richtigen gefunden hat. Das richtige Buch gefunden zu haben, insofern man sich für eine Familiengeschichte und ein Flüchtlingsdrama vor realem geschichtlichen Hintergrund interessiert, stellt sich hingegen für Leserinnen und Leser heraus. Was die Geschichte um die noch immer nicht restlos aufgeklärten Umstände des Mordes an Georgi Markow betrifft, legt Stefanie Gregg im Epilog noch einen drauf, indem sie ein paar aktuelle Informationen zum Hauptverdächtigen erwähnt, und ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass in dieser Sache, die noch immer nicht lückenlos aufgeklärt ist, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

 

Thomas Lawall - Februar 2016

 

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