Literatur

Über die See

von Mariette Navarro


160 Seiten
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2022
www.kunstmann.de
ISBN 978-3-95614-510-0



Sie hört sich selbst zu. "Einverstanden" hat sie gesagt. Wie kann das sein? War sie das wirklich? Es war ihre eigene Stimme und doch war etwas anders an ihr. Der Klang nicht der gewohnte.

"Es ist nicht ihre Arbeitsstimme, ihre Kommandantinnenstimme."

Ihr Einverständnis kam zu spontan. Scheinbar unkontrolliert sprudelte es aus ihr heraus. Das hat es so noch nie gegeben. Jetzt muss sie damit klarkommen. Die ganze Mannschaft hat es gehört. Mit oder ohne Erstaunen. Jetzt ist es jedenfalls heraus. Dieses überstürzte "Einverstanden" muss sie nun auch befolgen, denn "uneins" mit ihr selbst zu sein, kann sie nicht akzeptieren.

"Zwischen ihren Gedanken und ihren Aussagen hatte es bisher noch nie eine Abweichung gegeben."

Die Kapitänin sieht sich mit einem ungewöhnlichen Wunsch ihrer Besatzung konfrontiert. Mitten auf dem Ozean wünschen sie sich, schwimmen zu gehen. Ohne zu zögern kommt die Schiffsführerin der Bitte nach und lässt das Schiff anhalten. Ihr Frachter, mit Containern beladen, ist auf dem Weg in die Karibik. Zeit für einen Stop dieser Art ist eigentlich weder vorhanden noch irgendwie vorgesehen.

Sie beobachtet das Treiben im Wasser, "... erwachsene Männer, auch wenn sie sich im Wasser für einen Moment wieder so leicht gefühlt haben wie Kinder." Ihr Blick heftet sich auch an den Horizont, doch kein anderes Schiff ist in Sicht. Niemand, der sich wundern könnte, was hier passiert.

Mariette Navarro war vor zehn Jahren selbst auf einem Frachter unterwegs. Was sie auf dieser gut einwöchigen Reise zu den Antillen erlebte, floss wohl in diesen Roman mit ein. Ihre Figuren brauchen keine Namen. Es zählen allein ihre Gedanken, unmittelbaren Erfahrungen und Empfindungen. Allen voran jene der Kapitänin, die sich in der Beschäftigung mit sich selbst, Ungereimtheiten und Unsicherheiten entdeckt, und unentwegt hinterfragt.

Die Macht der Zweifel verwandelt die Autorin in Worte, die vielleicht in jener horizontlosen Kulisse eine ganz besondere Intensität entwickeln. In jenem Zustand, der Entscheidungen für "Irrfahrten oder Verankerung" verlangt,

"... ein Haus oder den immerwährenden Abschied."

Allein auf dem riesigen Schiff, während die Männer ausgelassen im Ozean schwimmen, wird es zu einer winzigen Nussschale, die in der Unendlichkeit auf einem kilometertiefen Abgrund wie von Geisterhand schwebt.

Bis zur einen oder anderen Grenzerfahrung ist es dann nicht mehr weit. Entweder man stürzt haltlos hinab oder man findet etwas. Sich selbst, etwas anderes oder gar beides. Vielleicht auch eine Wandlung. Doch vorerst tut sich Seltsames. Das Schiff wird langsamer, scheint sich zu verselbständigen, und dann folgt noch jener undurchdringlich erscheinende Nebel ...

Die Fragezeichen in Mariette Navarros wunderbarem Romandebüt scheinen sich im weiteren Verlauf der Geschichte Seite für Seite mit sich selbst zu multiplizieren. Am Ende jedoch kommt es anders, als man denkt, und jene Fragen sind alle beantwortet. Bis auf eine vielleicht.

 

Thomas Lawall - Oktober 2022

 

 

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