Literatur

Trotz alledem
Mein Leben


von Hannes Wader


592 Seiten
© 2019 by Penguin Verlag
www.penguin-verlag.de
ISBN 978-3-328-60049-7



Als ob man es nicht schon immer geahnt hätte: Hans' Mutter sang oft und gerne. Erinnerungen an sie sind aber auch stets mit ihrem Pensum an Arbeit verbunden. Für Freizeit war in den Nachkriegsjahren wenig oder meist gar keine Zeit. Jede erdenkliche Tätigkeit, sei sie auch noch so schlecht bezahlt, wurde angenommen, um das Überleben der Familie zu sichern.

Zusätzlich und bis spät in die Nacht, oft bis zur völligen Erschöpfung, musste die Haus- und Gartenarbeit erledigt werden. Tränen flossen nur im Verborgenen, weshalb die Erinnerungen daran undeutlich bleiben, ganz im Gegensatz zu Mutters stattlichem Repertoire an unzähligen Liedern, mitunter auch an "Klassikern der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung", die der kleine Hans alsbald auswendig konnte.

Wenn sich auch die Erinnerungen an das Kennenlernen des erst nach dem 2. Weltkrieg heimkehrenden Vaters ebenso diffus gestalten, bleiben immerhin jene erhalten, als er zur Mandoline griff, um den Gesang seiner Frau zu begleiten. Die Tristesse des grauen und arbeitsintensiven Alltags sowie die "emotionale Unterversorgung" durch die Eltern waren jedoch allgegenwärtig und prägend, die musikalischen Ablenkungsmanöver allenfalls zum tröstlichen Kaschieren der zahlreichen Entbehrungen geeignet.

In diesem Zusammenhang verwundert es nicht, wenn für Hans, den seine Kommilitoninnen einst, während seines Grafikstudiums, "Hannes" nannten, und er diese Namensänderung fortan übernahm, die Dinge, die ihn einst so belasteten, "in Verse gesetzt und gesungen" so etwas wie Erlösung bedeuten sollten:

"Ich schreibe und singe mir etwas von der Seele."

Als ob man es nicht schon immer geahnt hätte ... ist natürlich Unsinn. Wie sich alles wirklich zugetragen hat, steht auf einem ganz anderen Blatt. Welche Mühen es tatsächlich bedeutete, jene spärlichen Vorzeichen richtig zu deuten, ist nur schwer zu ermessen, ebenso wenig wie Waders Fähigkeit, seinen Werdegang im Nachhinein zu einem fast logischen Puzzle zusammenzusetzen. Allein seine Kindheit, die für ihn mit dem 13. Lebensjahr und dem Beginn einer Ausbildung als "Dekorationsgehilfe" in einem Bielefelder Schuhgeschäft endet, sind ihm 150 Seiten wert.

Doch damit ist es ja längst nicht getan. Nach der Armut der Kinderjahre folgten nicht minder schwere Zeiten. Das Berufsleben und die damit verbundenen leidigen Pflichten, Zwänge und Abhängigkeiten sind für Wader keine Zukunft, Auflehnung gegen das System deshalb zwangsläufig. Wohin das alles führen sollte, konnte er damals noch nicht wissen, eine feste Größe waren lediglich all die Dinge, die er NICHT wollte.

Die Berliner Jahre brachten zunächst ebenfalls wenig, außer der gelegentlichen Teilnahme am Grafikstudium, kurzfristigen Jobs als Arbeiter oder Barmusiker, unzähligen Kneipenbesuchen, oder "diffusen Träumen, mal irgendwann mit irgendwas groß rauszukommen". Immerhin halfen Kontakte und der Faktor Zufall, dass Hannes Wader von einem gewissen Burg-Waldeck-Festival hörte, welches ihm völlig unbekannt war ...

... aber schon seit 1964 veranstaltet wurde. Nichtsahnend, was ihn erwarten sollte, kam es zu einem ersten Auftritt 1966 mit einem Repertoire von ganzen vier Liedern. Die Publikumsreaktionen deutete Wader zunächst völlig falsch ... und jetzt wird es wirklich spannend! Und viel mehr als das, denn wenn dem Rezensenten, der damals erst neun Jahre alt war, eine Gänsehaut nach der anderen den Buckel rauf und runter wandert, dann wird erst richtig klar, was damals passierte und noch passieren sollte ...

Plötzlich sind sie wieder da, die ersten Lieder, die man so lange nicht hörte und damals, um einige Jahre zeitversetzt, auswendig konnte, ob sie nun "Das Loch unterm Dach", "Die Blumen des Armen", "Frau Klotzke" oder "Das Bier in dieser Kneipe schmeckt mir nicht mehr" heißen. Viel wichtiger jedoch ist das Wunder, das Lebensgefühl einer Zeit konserviert zu haben, die endgültig vorbei ist, die sich aber, dank der Kraft seiner Lieder, mühelos wieder zurückholen lässt.

Etwas, was in dieser Intensität vielleicht noch von keinem anderen Liedermacher erreicht wurde. Für all jene, die ohne Halt und Ziel zu leben gewagt haben gleichermaßen wie für diejenigen, die nur davon träumten. So ganz nebenbei hat er Sehnsucht und Melancholie endgültig definiert, was den Kollegen vielleicht mit dem einem oder anderen Lied ebenfalls gelungen sein mag, nicht aber mit deren jeweiligem Gesamtwerk!

Dass er nicht gerne schreibt, wie in der Einleitung "Vorweg" nachzulesen ist, mag man Hannes Wader jedoch nicht so recht glauben. Wundern darf man sich ebenfalls über die zahllosen Ereignisse, die er, ohne je Tagebuch geführt zu haben, aus seinen Erinnerungen hervorzaubern kann. Doch auch dafür gibt es eine ganz einfache Erklärung ...

Am Ende des Buches, das man keineswegs herbeisehnt, fühlt man neben der größten Hochachtung auch so etwas wie Dankbarkeit für so viel Leben, die Bereicherung und die Erlaubnis, dass man ihn auf seinem langen Weg ein gutes Stück begleiten durfte.

Unentschlossene Leserinnen und Leser sollten sich im Zweifelsfall einfach das Inhaltsverzeichnis anschauen. Es ist erstaunlich karg und übersichtlich. Ein unzweifelhafter Hinweis darauf, dass Hannes Wader sich sehr klar und unmissverständlich ausdrückt, wie in seinen Texten und seiner Musik, die Reinhard Mey einst so treffend charakterisierte:

"... Melodien, die aus der Kindheit, vielleicht aus der Nacht der Zeiten in uns allen klingen."

Bewegend auch, dass er mit Selbstkritik nicht spart, und die ihm in Erinnerung gebliebenen Zeichnungen seines Lebens nicht mit grellbunten Farben ausfüllt und verfremdet. Das macht auf jeder Seite neugierig auf die jeweils folgenden - so wie diese kleine Besprechung hoffentlich auch.

 

Thomas Lawall - Februar 2020

 

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