Tonspuren

Tonspuren

von Elliot Perlman


700 Seiten
© 2011 by Elliot Perlman
© der deutschsprachigen Ausgabe
2013 by Deutsche Verlags-Anstalt, München
www.dva.de
ISBN 978-3-421-04373-3



Lamont Williams sitzt erschöpft in einem voll besetzten Bus. Von seiner sechsmonatigen Probezeit hat er den vierten Tag hinter sich gebracht. Als Angestellter beim Gebäudeservice der Memorial-Sloan-Kettering Krebsklinik könnte ihm das bisher Unmögliche gelingen. Keiner, der einen Teil seiner Vergangenheit im Gefängnis verbrachte, hatte bisher die strengen Anforderungen der Klinik erfüllen können.

Die Exodus Transitional Community, eine gemeinnützige Organisation, die mit privaten Spenden und "unregelmäßig hereinsickerndem Zufluss öffentlicher Mittel" gerade so über die Runden kommt, entwickelte ein neues Sozialhilfeprogramm, dessen erster Kandidat Lamont Williams ist. Voraussetzungen sind ein Lebenslauf ohne Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch sowie ein fester Wohnsitz.

Drei Jahre war Williams zunächst im Gefängnis von Woodbourne und später weitere drei Jahre in Mid-Orange inhaftiert. Er war unwissentlich an einem Raubüberfall beteiligt. Ein Freund und ein Bekannter baten ihn, an einem Spirituosenladen anzuhalten, wo sie für einen angeblichen Filmabend Pizza besorgen wollten ...

Und nun hat er die einmalige Chance zur Wiedereingliederung in ein festes Arbeitsverhältnis erhalten. Er wird angenommen und somit behandelt wie jeder neue Angestellte der Klinik. Nach einer Probezeit von sechs Monaten winkt eine feste Anstellung. Beschäftigt beim Gebäudeservice ahnt er in den ersten Tagen nicht, dass er sehr bald einen ganz besonderen Patienten der Klinik kennenlernen wird ...

Adam Zignelik wird niemals vergessen, was ihm einst sein Vater über die New Yorker Unruhen erzählt hatte. Der wütende Mob machte sogar vor dem Colored Orphan Asylum nicht halt. Im Sommer des Jahres 1863 herrschte nur noch das Chaos. Nord- und Südstaaten befanden sich im Krieg. Die Sklavenbefreiung durch Lincoln im Vorjahr bereits proklamiert, wollten nicht wenige Sklavenhalter auf ihr "Eigentum" keineswegs verzichten.

Schlimmer noch war, dass die unter dem Krieg leidende Bevölkerung ausgerechnet die Schwarzen dafür verantwortlich machte. Furcht vor der "Emanzipationsproklamation" machte sich breit. Man fürchtete eine Flut befreiter Sklaven, die sich auf die Jobs in New York stürzen würden. Schließlich wären sie bereit, für noch weniger Lohn zu arbeiten als Iren und Deutsche ...

Um eine drohende Eskalation abzuwenden, erließ Lincoln ein neues Einberufungsgesetz in Form einer Zwangsauslosung. Im Juli sollte eine solche erstmals stattfinden und es kam zum Aufruhr. Tausende rückten zur Einberufungsstelle und zerstörten sie. Polizei und eine kleine Militäreinheit waren machtlos. Auch vor jenem Waisenhaus, einer wohltätigen Einrichtung für schwarze Kinder, machten sie nicht Halt. Die Betreuer konnten die Kinder retten, bis auf ein Mädchen, welches von einem aus dem Fenster geworfenen Möbelstück tödlich getroffen wurde ...

Der Historiker Adam Zignelik ahnt ebenfalls nicht, welche unerwarteten Wege noch vor ihm liegen, und wie sich sein weiteres Schicksal gestalten und wenden sollte. Eine erstaunliche Entdeckung sollte ihm eine Aufgabe schenken, die er lange suchte und sich dabei selbst beinahe aufgegeben hätte. In den Archiven der Galvin Library des Illinois Institute of Technology in Chicago findet er Transkripte von Interviews, die ein gewisser Dr. Border 1946 bei einem Besuch in Europa geführt hat. Es handelt sich ausnahmslos um Gespräche mit Überlebenden des Holocausts, die Border mit einem Drahttongerät aufgezeichnet hatte ... 

Auch der Patient in der Memorial-Sloan-Kettering Krebsklinik ist ein Überlebender. Henryk Mandelbrot ist schwer an Krebs erkrankt und findet in Lamont Williams einen idealen Gesprächspartner ...

... und was die unerwartete Bekanntschaft sowie den zufälligen Fund gleichermaßen betrifft, sind die Abgründe, in die beide führen: die Härte der Vergangenheit und Greueltaten - einmalig in der Weltgeschichte -, die oft und gerne auch heutzutage noch geleugnet, vergessen oder schlimmer, überhaupt nicht gekannt werden.

Elliot Perlmann geht es aber nicht nur um die Aufarbeitung dunkler Kapitel des zweiten Weltkrieges und den Wirren zur Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sondern um Geschichte im Allgemeinen und vor allem um die Geschichten, die uns Geschichte erzählen kann. Eine oder vielmehr gleich mehrere erzählt uns der Autor, indem er uns Menschen und deren Schicksal auf verschiedenen Zeitebenen vorstellt.

Dies tut er auf fast nüchterne Art und Weise, was dem Ernst der Geschichte(n) durchaus angepasst sein mag. Der ständige Wechsel von Zeit- und Erzählperspektiven leistet einem gewissen literarischen Anspruch Folge, gestaltet sich aber zumindest nach meinem Empfinden mitunter nicht unanstrengend und dem allgemeinen Verständnis nicht immer dienlich. Man darf sich auch gelegentlich fragen, mit welcher Person man es denn nun schon wieder zu tun hat. Man könnte hier und da auch schneller zum Punkt kommen und die eine oder andere Wiederholung streichen. Farblose Schilderungen privater Verhältnisse und Befindlichkeiten können langweilen und den Eindruck entstehen lassen, hier handle es sich um Werkzeuge des Spannungsaufbaus, was in einem solchen Werk eher fatal wäre.

Derartige Erwägungen treten aber hinter die Gesamtheit des Werkes zurück, welche mehr als ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Rassismus in all seinen Schattierungen darstellt. Den grausamen Ereignissen stellt Elliot Einzelschicksale gegenüber und zeichnet somit ein wesentlich eindringlicheres Bild, als dies Geschichtsbücher in ihrer Sachlichkeit vermögen. Die unterschiedlichsten Charaktere vermitteln zudem das ganze Ausmaß eines menschenverachtenden Systems, ob es sich nun gegen Juden oder Schwarze wendet. So stehen die Menschen und ihre ganz persönlichen Befindlichkeiten in diesem Roman auch im Vordergrund. Krieg, Hass und all die Morde bekommen Gesichter! Die Gewalt bleibt kein diffuses Bild, sondern wendet sich gegen "Individuen mit Gedächtnissen, Gefühlen, Ambitionen, Beziehungen, Meinungen, Werten und Errungenschaften".

Henryk Mandelbrot glaubte, nichtsahnend in Auschwitz angekommen, das Ende aller Tage, "wie er sie gekannt hatte", zu erleben. Was ihn am Leben erhält ist die Überzeugung, dass jemand erzählen muss, was hier geschehen ist.
So stellt auch die Macht der Erinnerung ein zentrales Thema dar. Sie kann grauenhaft sein, indem sie einfach kommt und geht wann sie will. Sie raubt den Schlaf und verhindert ein angstfreies Leben, auch wenn all die Schrecken längst im Nebel der Vergangenheit verschwunden sind. Doch die Erinnerung muss andererseits am Leben erhalten und weitergegeben werden. Sie ist Beleg und Zeugnis zugleich. Wird Geschichte ignoriert und totgeschwiegen, kann sie uns nichts lehren.

 

Thomas Lawall - Juni 2013

 

 

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