Literatur

Terranova

von Michael Krupp


156 Seiten
© Edition Thaleia, St. Ingbert 2011
www.edition-thaleia.de
ISBN 978-3-924944-97-1



Da ist ein "Herr in der Praxis". Ein ganz besonderer Herr, denn er scheint nicht aus dieser Zeit zu stammen. Die Art seiner Höflichkeit scheint aus alten, glanzvolleren Tagen zu stammen. Die Logopädin ist beglückt und ist es immer wieder. Der angedeutete Handkuss, begleitet von undeutlich Formuliertem, bringt stets "ein wenig Farbe in ihr müdes Gesicht". Für einen Moment erstrahlen in ihrer spartanisch eingerichteten Praxis "glanzvolle Opernballwelten". Auch in alte Schwarzweiß-Produktionen könnte man sich ihn gut vorstellen.

Doch der Mann hat ein Problem. Eigentlich sind es mehrere, denn der Herr von Suckow muss nach einem Schlaganfall mühsam das Sprechen wieder lernen. Das zweite Problem ist seine vorlaute Schwester, die keine Hemmungen zeigt, die Therapiestunden mit allerlei Zwischenrufen zu stören. Die Logopädin stellt die falschen Fragen. Sie könnte das viel besser. Ein weiteres Problem ist die Vergangenheit des Herrn Suckow. Gar kein Problem hingegen ist die Lektüre dieser Geschichte - die man gerne immer wieder liest. Feingewiegter Humor, eine sensible Darstellung des Praxisalltags einer Logopädin, menschliche Gegensätze, präzise beobachtete Alltagsgeräusche, ein nicht unbedeutender Nebendarsteller und der abgründige Kern der Geschichte sowie die sich daraus entwickelnde "Pointe".

Nicht minder dramatisch entwickelt sich ein Familiendrama im "Hobbykeller", während andere Geschichten Rätsel aufgeben und sich in den vielen Interpretationsmöglichkeiten leider ein wenig verlieren. Der Autor möge mir vergeben, wenn ich mir an manchen Stellen eine weniger gewählte Ausdrucksweise gewünscht hätte, die somit möglicherweise einer verständlicheren Platz gemacht hätte.

Michael Krupp legt jedes einzelne Wort auf die Goldwaage. Seine ungewöhnlichen Geschichten spiegeln Lebensbetrachtungen und Zustandsbeschreibungen, die im immer rasanter werdenden Lebenstempo allzu leicht untergehen. Wie durch ein Mikroskop betrachtet, kann Alltägliches in kühne Beobachtungen oder aufregende Reisen mutieren.

Seine direkte und unmittelbare Wortwahl sowie die Präzision seiner Psychogramme und seiner ausgefeilten Situatiuonsanalysen kann sowohl faszinieren als auch erschrecken oder den Leser vor Fragenberge stellen. So muss es nicht unbedingt sein, dass man Kern und Inhalt einer Geschichte, jedenfalls im herkömmlichen Sinn, sofort verstehen muss. Und wer zum Teufel ist zum Beispiel dieser "Seliger"?

Wie dem auch sei, es kann sich für den aufmerksamen Leser bereits lohnen, sich nur eine einzige Seite etwas genauer anzusehen. Einfach (mindestens) noch einmal lesen, denn allzu leicht könnten Details verlorengehen oder schlicht überlesen werden. Die Fülle seiner sprachlichen Möglichkeiten scheint unerschöpflich zu sein, und in Verbindung mit seiner außerordentlichen Beobachtungsgabe ergeben sich Moment- und Zeitaufnahmen des Lebens, wie wir sie so oder so vielleicht noch gar nicht erlebt und gesehen haben!

Man muss aufpassen und hellwach sein bei dieser Lektüre. "Terranova" kann keine durch die Zeilen drängenden und hastenden Leser gebrauchen. Man darf auch keine Angst haben, sich auf das Wesentliche einzulassen. Die Kunst des Schreibens ist eine Gabe, zum Wohlgefallen derer, die noch die Kunst des Lesens verstehen.

 

Thomas Lawall - Januar 2013

 

 

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