Tagebuch einer Invasion
von Andrej Kurkow
350 Seiten © der deutschen Übersetzung 2022 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at ISBN 978-3-7099-8179-5
Es ist Krieg in Europa. Für nicht wenige Menschen ein bisher nicht vorstellbarer Zustand, andere haben das Ende des zweiten Weltkriegs vor 77 Jahren vielleicht verdrängt, vergessen oder halten die Erinnerungen daran so klein wie möglich. Unabhängig davon bedeutet es für alle jedoch das Gleiche: Der Krieg ist wieder da.
Die Flut der täglichen Nachrichten mag den einen oder anderen über Gebühr belasten und andere können und wollen es vielleicht gar nicht mehr hören. Letztlich blieben Putins Drohungen, jene atomaren Andeutungen, nicht ohne die beabsichtigten Wirkungen.
Doch was sind die Befindlichkeiten des verwöhnten und wohlgenährten Westens gegen diejenigen, die es unmittelbar betrifft? Die Gräuel, die sich doch stets so fern der Heimat ereignen und ereignet haben, spielen sich jetzt quasi vor der eigenen Haustüre ab. Mit einem Schlag rückt die Ukraine in das Bewusstsein eines jeden Europäers. Jetzt gibt es kein Verstecken mehr.
Andrej Kurkow gibt Antworten auf jene Fragen, die sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sozusagen explosionsartig ergeben haben. Hierzu gehören ein paar Nachhilfestunden in russischer und ukrainischer Geschichte, unter besonderer Berücksichtigung der Massenproteste 2013, sowie der Annexion der Krim 2014.
Der in Sankt Petersburg und in der Ukraine aufgewachsene Schriftsteller legt seinen Fokus aber auf die Menschen und oft genug auch auf deren Einzelschicksale. Hier erfahren Leserinnen und Leser jene Details und Geschichten, die es, nicht zuletzt wegen der großen Vielzahl, niemals in die tägliche Berichterstattung schaffen würden.
Da wären beispielsweise jene beiden Bekannten, einer davon 92 Jahre alt und schwerst krank, welche die Hauptstadt Kiew verlassen, die rund 500 Kinder, die dort seit Kriegsbeginn in Luftschutzkellern oder auf U-Bahnsteigen auf die Welt gekommen sind, oder jene drei Hausbesitzer, die bei der Arbeit in ihrem Gemüsegarten, in der Nähe von Saporischschja, von einer explodierenden Rakete getötet wurden.
Verstörend auch die Schilderungen über Bauern, die in kugelsicheren Westen arbeiten oder die Schwierigkeiten, Papier für Druckerzeugnisse aufzutreiben. Menschen kleben Anzeigen an Straßenlaternen, um auf diesem Weg vielleicht an zehn Liter Benzin zu kommen. Bizarr oder auch zynisch wirken Berichte über russische "Militärdelfine" und einen real existierenden "Gefallenenaustausch". So als ob es im Bereich des Wahnsinnigen immer noch eine Steigerung gäbe.
Eigentlich hat Russland den Krieg längst verloren. Moralisch auf jeden Fall. Denn was Präsident Wladimir Putin in 72 Stunden erreichen wollte, ließ sich, selbst mit einem Heer von 150.000 Soldaten, nicht umsetzen. Der Widerstand der ukrainischen Truppen war ebenso unerwartet wie selbiger in der Bevölkerung, was vielleicht als eines seiner größten Eigentore zu bezeichnen wäre. "Tagebuch einer Invasion" ist somit nicht nur eine Chronik des russischen Angriffs am 24.02.2022,
"... sondern auch eine Chronik darüber, wie der von Russland angezettelte Krieg - sowie der Versuch Russlands, die Ukraine als unabhängigen Staat zu zerstören - zur Stärkung der nationalen Identität der Ukraine beigetragen hat."
Eine Fortsetzung dieses Buches wünscht sich niemand. Diese wird sich aber leider nicht vermeiden lassen. Andrej Kurkow wird nicht ruhen, sein Tagebuch (29.12.2021 - 11.07.2022) zu aktualisieren.
"Die Ukraine wird überleben, wieder aufgebaut werden und über den Krieg hinwegkommen...".
Auf dass er recht behalten möge!
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