Tabu
von Ferdinand von Schirach
256 Seiten © Piper Verlag GmbH, München2013 www.piper.de ISBN 978-3-492-05569-7
Er vermisst sein Elternhaus, das Haus am See. Nicht einmal in den Ferien dürfen die Kinder nach Hause fahren. Alle zwei Wochen dürfen sie sonntags wenigstens nach Hause telefonieren. Sebastian ist in einem Internat in der Schweiz. Er lernt, sich in der Abgeschiedenheit des Klosters einzurichten. Die immer gleichen Tagesabläufe geben ihm Sicherheit und die Ruhe,"in den Büchern zu leben".
Seine Mutter teilt ihm telefonisch mit, dass sein Vater krank sei. Sebastian von Eschburg merkt sofort, dass etwas nicht stimmt und dass er umgehend handeln muss. Nur er kann seinen Vater retten. Mit einem Fußmarsch durch die Viamalaschlucht, die er einst bei einer Klassenfahrt nicht betreten wollte. Jetzt will er es alleine wagen, und er schafft es. Seinem Vater zuliebe. Er glaubt an seine Rettung, auch wenn er für diese eigenmächtige Aktion vom Präfekten eine Ohrfeige kassiert.
Sebastian ist anders. Er lebt und sieht die Dinge gänzlich anders. Er definiert seit frühester Kindheit die Welt durch Farben. Zahllose Farben, und es gibt "nicht genug Worte für sie". In der Schule setzt sich diese Sicht der Dinge fort. Den Buchstaben ordnet er Farben zu. Und neben den sichtbaren Farben sind da noch jene anderen, unsichtbaren. Das befähigt ihn dazu, seine Welt zu katalogisieren. Eine Ordnung, die nur er zu verstehen scheint.
Traumatische Kindheitsereignisse bringen seine Welt ins Wanken. Einst weidete sein Vater ein erlegtes Reh aus. Jener Schnitt zog ihn magisch an und er starrte in das Innere des Rehs, wie damals in die Tiefe bei einer Schluchtwanderung. Feinfühlig registriert er zunehmenden Streit zwischen den Eltern und muss hilflos zusehen, wie sein Vater zum Alkoholiker wird. Der Selbstmord des Vaters wirft ihn schließlich aus seiner ganz speziellen Ordnung heraus ...
Sebastian ist anders, so wie alles an diesem Buch. Ferdinand von Schirach macht nicht viele Worte, und doch ist es so, als ob er jedes einzelne von ihnen auf die Goldwaage legt. Es gibt in "Tabu" keine verschachtelten Satzkonstruktionen oder breit angelegte Rückblenden. Der Autor macht aus weniger mehr und trifft somit unmittelbar auf den Punkt. Eine äußerliche Charakterisieung seiner Figuren ist nicht notwendig. Er beschreibt sie durch ihr Handeln und ihre Gedanken. Manchmal liebevoll, manchmal bedrohlich.
Auch Strafverteidiger Konrad Biegler ist so ein Kaliber. Seine Frau Elly leidet an seiner schlechten Laune. Sie hat keine Chance, denn Biegler hält positives Denken für "schlicht dumm". Gut gelaunte Menschen sind "kindisch oder bösartig".
Ferdinand von Schirach arbeitet mit einem unterschwelligen Grausen und gleichzeitig einem liebevollen Verständnis seinen Figuren gegenüber. Die Leser und Leserinnen dieses Buches müssen ebenfalls "anders" sein, um einigen unkonventionellen Erkenntnissen und Einsichten folgen zu können. Nicht selten formuliert der Autor gerade das Gegenteil von dem, was allgemeinen Erwartungen entspricht.
In diesem Sinne ist Biegler jetzt mein Lieblings-Strafverteidiger. Natur oder Urlaub sind ihm beispielsweise ein Greuel: "Niemand erholt sich in den Ferien." Anderes Beispiel: Einer Dame darf man keineswegs Blumen mitbringen. Einer jungen schon gar nicht ...
... weshalb, darf der geneigte Leser selbst herausfinden. Und weshalb er dieses ganz und gar ungewöhnliche Werk nicht aus den Händen legen kann, sowieso.
Platz 1 in der Novemberausgabe der QUERBLATT Buch-Charts TOP 27!
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