Literatur

So gehn wir denn hinab

von Jesmyn Ward


304 Seiten
© der deutschen Ausgabe:
Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2024
© der Originalausgabe: Jesmyn Ward 2023
www.kunstmann.de
ISBN 978-3-95614-600-8



Die "Georgia-Männer" kennen so etwas wie Erbarmen nicht. Gnadenlos treiben sie den Zug der Sklaven nach Süden. Frauen, an und mit Stricken zusammengebunden, und Männer in Ketten. Geschwollene Gliedmaßen oder offene Wunden sind kein Thema. So geht es Tag für Tag und Woche für Woche einem Schicksal entgegen, welches heutzutage kaum mehr vorstellbar erscheint.

Wie Vieh werden sie durch unwegsames Gelände und durch Flüsse getrieben, was nicht alle überleben. Nicht schwimmen zu können ist kein Thema. Die Männer kämpfen zusätzlich mit dem Gewicht ihrer Ketten. Selbst wenn Frauen und Männer das jeweilige Ufer nur noch kriechend erreichen, gönnt man ihnen keine Pausen. Wer es nicht einsieht, den trifft die Peitsche.

Annis, die eigentlich Arese heißt, ist in diesem Tross unterwegs, nachdem man sie gewaltsam von ihrer Mutter trennte. Damals, als ihr Sire sie verkaufte und sich jener Abgrund auftat.

"Bestimmt geht unter uns die Erde auf. Bestimmt wird diese schreckliche Welt mich verschlucken."

Als wäre der ganz normale brutale Alltag im Haus ihres Sires, der nebenbei auch noch ihr Erzeuger war, nicht grausam genug, ständig in der Angst lebend, wann sie an der Reihe wäre, wann er sich sie mit Gewalt nehmen würde.

"Er taxiert mich auf dieselbe Art wie seine Pferde, mit einer Aufmerksamkeit, die so prüfend und konzentriert ist wie seine Hand auf einem langen, bemähnten Hals, einem muskulösen Schenkel, einem sattelfesten Rücken."

Was kaum noch möglich erscheint, geschieht dann doch. New Orleans wird erreicht, doch gewisse Ahnungen bestätigen sich, denn nun geht das Grauen erst richtig los. Immer mehr Interessenten tauchen auf, erste Verkaufsgespräche finden statt und irgendwann kommt es zum Verkauf der Menschen. Annis versucht sich irgendwie darauf vorzubereiten.

"Auf diesen Tod vor dem Tod. Dieses Verkauftwerden."

Diese endgültigen Traumatisierungen zu überwinden scheint ebenso sinnlos wie unmöglich zu sein, und doch findet Annis Mittel und Wege. Die Liebe ihrer Mutter ist ebenso allgegenwärtig wie der Geist ihrer Großmutter und all die anderen unsichtbaren Gestalten. Es sind Erscheinungen, ihre Verwandten, "Sturmwinde, Chaostanzende", oder "Die, die Vorhersagen".

Spannend wird es, wenn in aussichtsloser Situation gar die Erde zu ihr spricht:

"Und jenseits von Windung um Windung um Windung verglühen dein Haar, deine Haut und dein Blut zu einem Stern."

Allerspätestens an dieser Stelle sucht der Rezensentenwurm händeringend nach Formulierungen, denn Jesmyn Wards Sprache als gewaltig zu bezeichnen, käme nur einer maßlosen Untertreibung, einer Art Notlösung gleich. Was augenscheinlich kaum zusammenpasst, vereint sich in ihrer Wortwahl zu außerordentlich bewegenden Ambivalenzen.

Unsagbar grausames Leid und bodenlose Verzweiflung bilden mit dem Prinzip Hoffnung eine lyrische Legierung. Jene Wortkleider zeichnen Wucht und Erstaunen, öffnen Abgründe, können auch faszinieren, gehen aber Hand in Hand mit dem Entsetzen über das, was Menschen Menschen anzutun in der Lage sind.

Übertragbar sind die Botschaften, sich nicht aufzugeben und sich auf die Suche nach dem eigenen Weg zu begeben, und jenen, auch wenn es aussichtslos erscheint, dann auch zu betreten. Das große Sinnbild der Geschichte erschließt sich am Ende.

 

Thomas Lawall - September 2024

 

 

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