Schnell leben
von Brigitte Giraud
220 Seiten © Frankfurter Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt am Main 2023 www.fva.de ISBN 978-3-627-00313-5
Kluge Menschen sind es, die uns raten, stets nach vorne zu schauen, aber niemals zurück. Andere wiederum empfehlen, nur den Moment zu leben. Sie schauen nicht in die Zukunft und schon gar nicht zurück.
Die in Algerien geborene und in Lyon lebende Schriftstellerin scheint das völlig anders zu sehen, denn in "Schnell leben" geht es nur peripher um die Gegenwart, denn hier existieren nur ihre Gedankenspiele, die ihren Ursprung aber in Ereignissen haben, die mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegen.
1999 starb ihr Mann bei einem Motorradunfall, und sie ist auf ihre Art nicht damit einverstanden, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Deshalb entwickelt sie einen ganzen Was-wäre-wenn-Katalog an Möglichkeiten, wie das Schicksal sich hätte anders gestalten und verzweigen können.
Das mag müßig sein und überflüssig dazu, so, wie Brigitte Giraud das schreibt, allerdings ganz und gar nicht. Denn jedes Detail, was zum Unfall führte, ihn hätte verhindern können oder in irgendeinem Zusammenhang stand, will sie "nach Sinn auspressen". Zu groß ist die Erschütterung, die Worte der Notärztin, jener Satz,
"der das Vorher vom Nachher trennte".
Nüchtern, aber schonungslos klar formuliert sie das Zerbrechen ihres Lebens und all ihrer gemeinsamen Planungen, wollten sie doch eigentlich im neu gekauften Haus ihre
"Koffer für ein ganzes Leben abstellen".
Und so kam es, dass sie mit ihrem Sohn alleine einzog.
"Das Haus war zum Zeugen meines Lebens ohne Claude geworden."
Die Geschichte ist im Prinzip gar nicht mal so umfangreich, das, was sie auslöst, allerdings schon! Es ist sogar so, dass sie, so grandios diese auch erzählt wird, weit hinter dem zurücksteht, was sie an Eindrücken hinterlässt.
Man könnte das als literarische Nachhaltigkeit verstehen, denn Leserinnen und Leser geraten schon während der Lektüre recht früh und fast automatisch auf die Gleise des eigenen Schicksals und beginnen, sich parallel zu fragen, was wohl gewesen wäre, wenn man hier und da anders abgebogen wäre, und wie sich die Umstände dann vielleicht völlig anders gestaltet hätten.
Den eigenen Werdegang in seine Bestandteile zu zerlegen ist somit eine nicht zu unterschätzende Nebenwirkung dieses Buches, welche in ihrer Intensität dem Rezensenten in bisher keinem anderen Werk und nicht einmal annähernd begegnet ist.
"Schnell" wird aber auch klar, dass es sich hier um einen würdigen, wenn auch verzweifelten, Nachruf handelt, aber auch um eine herzerwärmende Hommage und eine ganz und gar außergewöhnliche Liebeserklärung.
Mehr Sinn kann man einem Schicksal nicht geben.
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