Literatur

Sandros Strafe

von Hans-Jürgen Fischer


192 Seiten
© Edition Thaleia, St. Ingbert 2012
www.edition-thaleia.de
ISBN 978-3-924944-98-8



Wilfried Kaminski hat seine Kanzlei noch nicht richtig betreten, als er bereits von seiner Renogehilfin zum Telefon zitiert wird. Müller Zwo von der Jugendkammer hat ein besonderes Anliegen, das dem Rechtsanwalt in die Karten spielt. Sogleich fragt er seine Mitarbeiterin, ob die schriftliche Benachrichtigung schon da wäre. Auf dem per Fax eingetroffenen Schreiben wird der Termin für eine Haftprüfung genannt, welche im Krankenhaus stattfinden soll. Wilfried Kaminski ist zum Pflichtverteidiger von Sandro Wallbaum bestellt worden. Fünf Menschen hat er in seiner Schule umgebracht. Der Versuch, sich danach das Leben zu nehmen, misslang. Sandro wachte querschnittsgelähmt in einem Krankenhaus auf ...

Mit solch einem "dicken Fisch" an der Angel ist Kaminski jetzt ein gefragter Anwalt. Kein Kleinkram mehr wie die Strafverteidigung von Eierdieben. Der neue Fall erscheint ihm andererseits wie eine logische Fortsetzung seiner bisher bevorzugten Tätigkeiten. Stets hatte er einen guten Draht zu jugendlichen Straftätern entwickeln können, die sich in der typischen Entwicklung vom ersten Diebstahl bis hin zu Körperverletzungen und schwereren Straftaten verzettelt und verlaufen hatten. Zudem könnte er den üblen Gerüchten nun endlich entgegentreten, im Rahmen seiner Homosexualität gewisse Dienste der Jungen in Anspruch genommen zu haben. Eine Affäre mit einem bis zum Hals Gelähmten können ihm seine Neider nun keinesfalls auch noch unterstellen. Mit diesem Mandat liefert ihm die Jugendkammer eine "echte Steilvorlage" und jetzt kann er seinen beschädigten Ruf endgültig "aufpolieren" ...

Jugendgerichtshelfer Alexander Feininger zeigt zunächst wenig Interesse an dem Fall, zumal er sich nicht zuständig fühlt. Der Sozialpädagoge sieht seine Kollegin Petra Müller in der Pflicht, zumal sie mit diesem "Bengel" bereits zu tun gehabt habe. Stellenleiterin Agnes Röscher vertritt eine andere Auffassung, nicht zuletzt im Zusammenhang mit einer kürzlich erfolgten Krankmeldung der Kollegin. Feininger lässt sich nicht überzeugen und erst ein schriftliches Machtwort in Form einer Dienstanweisung der Fachbereichsleitung kann ihn dazu bewegen, wenn auch unter Protest, aktiv zu werden. Bei genauerem Studium eines älteren Berichtes der Jugendgerichtshilfe entdeckt er ein erstes Mosaiksteinchen, welches Im Fall Sandro Wallbaum eine vielleicht nicht zu unterschätzende Rolle gespielt haben könnte ...

Feininger nimmt Kontakt mit Sandro auf. Behutsam, und er nimmt sich Zeit.

Ebensoviel Zeit nimmt sich Hans-Jürgen Fischer für seinen Roman. Einseitige Sichtweisen sind ihm fremd, weshalb sich auch meine Vorbehalte zu "Sandros Strafe" bereits nach der Lektüre von nur wenigen Seiten vollständig aufgelöst haben. Nahtlos verbindet er nüchterne Sachlichkeit mit einer fiktiven Geschichte um den Sozialpädagogen Feininger und den 16-jährigen Sandro Wallbaum, der in einem Amoklauf (schlimmes Wort), bekanntlich auch "School-Shooting" (noch schlimmeres Wort) genannt, eine generalstabsmäßig geplante und mit äußerst brutalen Mitteln ausgeführte Abrechnung inszeniert hat.

"Sandros Strafe" ist kein reißerischer, bluttriefender Thriller, der ein diffuses Bild auf der Basis bekanner Tötungen von Menschen in schulischen Einrichtungen, wie z.B. in Blacksburg, Kauhajoki oder Winnenden, dramatisiert, sondern das sensible Portrait eines Menschen, der keinen Ausweg mehr wusste und der sich selbst an das Ende seiner todbringenden Phantasien stellte, letztlich aber scheiterte und sich nun völlig unerwartet und unvorbereitet einem Schicksal stellen muss, das außerhalb seiner Planungen lag.

Und genau dieses Was-Wäre-Wenn ist der Ausgangspunkt für eine neue Perspektive. Der Täter ist gezwungen, nachzudenken und sich mit einer Thematik zu beschäftigen, die neu und fast absurd für ihn wirken mag. Die Lähmung fesselt ihn zudem ans Bett, und Sandro wird ein Leben lang auf die Hilfe von anderen angewiesen sein. Kann das funktionieren? Will er das überhaupt? Es wird eine Vielzahl von Menschen sein, die ihm helfen müssen. Wenn ihm nur vorher jemand geholfen hätte ...

Hans-Jürgen Fischer scheint sich auszukennen. Seine dichten Charakterzeichnungen bestürzen und lassen uns nicht wenige Amtsstuben, soziale Einrichtungen und Schulen in einem noch schlechteren Licht erscheinen, als dies mancherorts sowieso schon zu sein scheint, egal ob es ich um eine (absichtlich) fehlbesetzte Stellenleiterin der Jugendgerichtshilfe handelt oder den ebenso völlig überlasteten wie geistig unterbelichteten Kollegen Kagenus vom Allgemeinen Sozialdienst. 

Am Ende gelingt dem Autor ein erschreckender Realismus, indem er die verschiedenen Lebensstationen und -situationen des Sechzehnjährigen zu einem logischen Ganzen zusammenfügt, die zur Katastrophe führenden Mechanismen nach und nach aufdeckt, und schließlich den mit allen Wassern gewaschenen Profi Feininger an die eigenen Grenzen stoßen lässt, die nichts anderes als die Gitterstäbe des Systems bedeuten, in dem zu leben wir täglich gezwungen sind. Nicht nur das System Schule sollte dringend überprüft und sorgsam auf Schwachstellen untersucht werden ...

Neben einem Rundumschlag durch bestehende Realitäten ist das Buch aber auch ein Roman, in dem das fiktive Element nicht fehlen darf. So findet die Geschichte dann auch ein Ende, welches man so dann doch nicht erwartet hatte ...

 

Thomas Lawall - Juni 2012

 

 

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