Patriarchale Belastungsstörung
von Beatrice Frasl
384 Seiten © 2022 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien www.haymonverlag.at ISBN 978-3-7099-8175-7
Die posttraumatische Belastungsstörung hat ein Geschwisterchen bekommen. Es ist die "Patriarchale Belastungsstörung". Der ebenso originelle wie provokante Titel mag für viele potentielle Leserinnen und Leser eine abschreckende Wirkung haben, was sich im Falle des Rezensenten genau anders herum gestaltete, da er eine kapitale Abrechnung mit seinen Stammesgenossen erwartete, ja sich geradezu darauf freute.
Aber wie das mit Erwartungen oft so ist, wurden diese zunächst nicht erfüllt, was aber ganz und gar kein Nachteil war, denn während der Lektüre der ersten Kapitel entstand, neben der Bewunderung aller Sachlichkeit, so etwas wie Spannung. Wann würde es denn endlich losgehen ...
Völlig unerwartet geht es erst einmal um seelische Gesundheit im Allgemeinen, kurz gesagt: "Eine psychische Krise ist kein Beinbruch". Das öffnet schon mal die Tore für diejenigen, die immer noch meinen, sich verstecken zu müssen. Es folgen ein Überblick über Hilfen bei "psychischen Erkrankungen" und einmal mehr der Ruf nach Beendigung der "Stigmatisierung und Tabuisierung von 'Schwäche' im Allgemeinen und psychischer Erkrankung im Besonderen".
Beatrice Frasl stellt Gesundheitssysteme auf den Prüfstand, und lenkt den Blick weg von der isolierten, rein biologischen Sicht auf die Entstehung psychischer Krankheiten, welche sich auf ein neurochemisches Ungleichgewicht des Gehirns als Ursache beschränkt. So seien stets "sozioökonomische Rahmenbedingungen, Lebensumstände und Lebensgeschichte" der Betroffenen in Therapien einzubeziehen und nicht nur die Verabreichung einer entsprechenden, mitunter fragwürdigen, Medikation.
Nach fast der Hälfte des Buches geht es dann, ganz im erwartet feministischen Sinne, los. Na endlich, denn wesentliche Ursachen für seelisches Ungleichgewicht und den daraus resultierenden Krankheiten von Frauen dürften in patriarchalen Strukturen zu suchen sein. Und das nicht erst seit heute. Ganz erstaunlich ist aber auch hier die sachlich-differenzierte Herangehensweise der Autorin, obwohl angesichts der verschiedenen Sachlagen eine härtere Gangart sicherlich angebracht und legitim gewesen wäre. In Anlehnung an jene "hysterischen" Hilferufe von dereinst und heute ...
Vielleicht werden sich nicht wenige Frauen, und hoffentlich auch Männer, die sich für dieses Buch interessieren, fragen, ob denn ein solch komplexes Werk überhaupt verstanden werden kann, also für die Allgemeinheit lesbar ist. Das kann (fast) uneingeschränkt mit Ja beantwortet werden, denn Beatrice Frasl bleibt, trotz einiger Ausflüge in akademische Wort- und Satzkonstruktionen, allgemeinverständlich. Ja gut, ein gelegentliches Nachschlagen im Fremdwörterbuch bleibt im Rahmen und kann ja nicht schaden.
Abgeleitet vom Covermotiv kann man diesem ebenso zarten wie zerbrechlichen Pflänzchen für den weiteren Lebensweg nur alles erdenklich Gute und viel Erfolg wünschen. Die Lektüre dieses Buches schärft den Blick auf ein gesellschaftliches System, das seit Jahrhunderten Frauen in allen Belangen unterdrückt, missachtet, missbraucht und in eine ganze Vielzahl von Schubladen auch heute immer noch zwängt.
Als Kulturwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin sieht Beatrice Frasl aber auch die Verbesserungen und Fortschritte, die auf dem Gebiet der Therapien für sog. psychische Erkrankungen gemacht wurden (Um so schlimmer muten ein Rückblick in Behandlungsmethoden vergangener Tage an!). Verdient macht sie sich mit ihrem leidenschaftlichen Ruf gegen die isolierte Behandlung des Individuums, "während die Strukturen, die es krank machen, ausgeblendet werden". Viel und vor allem schnell ändern wird sich wenig, doch es gibt vorgezeichnete Wege. Dieses Buch kann helfen oder gar der Schlüssel sein, jene zu finden und zu beschreiten. Wem ich es empfehle? Allen und jedem.
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