Literatur

Olympia 1936 - Danach kam alles anders

von Karl Hemeyer


334 Seiten
© ACABUS Verlag, Hamburg 2010
www.acabus-verlag.de
ISBN: 978-3-941404-50-2



"Nicht so flink, Jung, sonst falls du noch op de Schnuut" ruft David seinem Bruder Harro hinterher, als dieser in Richtung Stadioninnenraum verschwindet. In diesem Moment wird David Stern von einem jungen Mann angesprochen. "Wat hör ick denn dor, plattdütsch?" David antwortet prompt: "Jo, so snackt man bi uns." Er ahnt nicht, mit wem er es zu tun hat. Kann er auch nicht, denn damals stand Henri Nannen noch am Anfang seiner Karriere. Er studierte .... und war zur jener Zeit Stadionsprecher im Berliner Olympiastadion. Die beiden freunden sich an und Henri ist behilflich bei der Beschaffung von Presseausweisen.

Die Spiele beginnen demnächst und David und Harro "Stern" werden dabei sein, nachdem sie sich bei einer heftigen Auseinandersetzung mit dem Vater durchsetzen konnten. Beide arbeiten in Wesermünde im Druckhaus Stern, dem Verlag ihres Vaters, der auch Herausgeber der Tageszeitung "Nordsee-Blatt" ist. Hinrich Wilhelm Stern mag keine Veränderungen, und somit ist er auch nicht leicht von der Wichtigkeit von Bildmaterial zu überzeugen. Die neumodischen Apparate und die Herumknipserei könnten "ja nun nicht de Welt seyn". Harro, der Fotograf, sieht das anders und sein Bruder David, der für die Texte zuständig ist, unterstützt seine Position ohne Wenn und Aber. Sie stehen zusammen und setzen durch, dass sie beide nach Berlin zu den Spielen fahren können. Sie wollen täglich von den Spielen berichten und danach mit ihrem ganzen Material ein Buch zusammenstellen. Danach würden Harro und David so nach und nach das Kommando im Verlag übernehmen. Harro wäre für die neue Technik in der Druckerei zuständig und David für die inhaltliche Dinge. Beide drohen sie, den Verlag zu verlassen, falls ihr Vater weiterhin unflexible Positionen vertreten sollte. Letztlich ein genialer Schachzug des Vaters, denn er wünschte sich stets nichts sehnlicher, als die Fortführung des Verlages durch seinen beiden Söhne. Nach diesem Auftritt kann er sich sicher sein, dass sie den Verlag tatsächlich gemeinsam voranbringen werden. Vorläufig jedenfalls ...

Am 1. August 1936 beginnen die XI. Olymischen Spiele. 100.000 Menschen sitzen im Berliner Olympiastadion. Aus 49 Nationen sind knapp 4000 (nicht 5000) Athleten angereist. Etwa 1800 Journalisten sind akkreditiert. 700 von ihnen sind internationale Berichterstatter aus 58 Ländern - die Spiele werden zum ersten Mal weltweit direkt im Radio übertragen. Ein Berliner Fernsehsender überträgt erstmals Fernsehbilder, doch noch hat das Radio absolute Priorität, da nur wenige sich einen Fernseher leisten können. Allerdings erfahren wir kaum mehr über die Spiele - der Titel hält also nicht, was er verspricht. Sie dienen lediglich als Kulisse für die Lebensgeschichte der Brüder. Man pendelt die 16 Tage mehr oder weniger zwischen Stadion, Pension und Kneipe hin und her, wobei letzterer größere Beachtung geschenkt wird. So nebenbei lernt man Henri Nannen, Leni Riefenstahl und Jesse Owens kennen, die natürlich alle darauf gewartet haben, ausgerechnet die beiden Landeier kennenzulernen. Leider wirkt das mitunter ebenso abenteuerlich wie unglaubwürdig.

Allerdings gewinnt die fiktive Handlung durch die Verflechtung realer Charaktere an Fahrt und vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse erscheint diese fast wie ein Tatsachenbericht oder eine Biografie. Diese Richtung täuscht zunächst auch der Titel des Buches bzw. die graphische Gestaltung des Titelbildes vor, da man auf den ersten Blick ein Sachbuch erwartet. Dass es sich dann um einen Roman handelt, kommt mehr oder weniger überraschend, da die Titelbildmontage einfach andere Assoziationen erzeugt. Auch der Haupttitel scheint mir nur bedingt gelungen zu sein, denn schließlich findet "Die Zeit der Spiele" gerade mal auf knapp 30 Seiten statt - alles andere spielt sich vor oder danach ab. Als guter Aufhänger für die Lebensgeschichte der Brüder Stern mag der Titel taugen, zudem sie während jener Zeit ein gutes Stück zueinander fanden und erstmals eine Zusammenarbeit im größeren Stil nicht nur probten, sondern auch überaus erfolgreich umsetzen konnten. Doch es sollte anders kommen. Die technischen Entwicklungen in Sachen Bildaufzeichnung lassen Harro keine Ruhe und er beschließt, andere Wege zu gehen ...

Ganz andere Wege muss auch sein Bruder gehen, da ihn die politischen Gegebenheiten (er weigert sich, seinen Namen in Steen umzuändern - "David Stern" gefällt den Nazis nicht ...) zur Flucht zwingen. Diese gelingt auch prompt, denn wie es der Zufall will, steht sein Onkel Karl mit vollgetanktem Kutter "Trine" bereit für die spontane Flucht nach England. Seiner Familie muss er vorher nicht Bescheid sagen, sondern es wir einfach losgetuckert. Drei Tage lang durch stürmische See. Und weil es dem Onkel in England so gut gefällt, bleibt er gleich noch ein paar Monate dort ... und die ganze Geschichte hat längst an Glaubwürdigkeit verloren.

Harro gerät in russische Kriegsgefangenschaft, kommt aber auf wundersamen Wegen selbstverständlich nach Hause zurück, doch da er inzwischen von beiden Seiten gesucht wird, flieht er mit seinem Vater nach Schweden. Auch in diesem Fall ist ein Boot schnell gefunden, doch in Schweden gibt es ernsthafte Probleme. Man wird freundlich empfangen und da man glücklicherweise Gold und Bernstein mitführt, was sich auch noch sofort in bare Münze umtauschen lässt, kann man umgehend ein Auto kaufen, um das nächste Ziel zu erreichen (was jetzt aber nicht verraten wird). Leider bleiben die beiden in einem Schneestrum stecken, was aber auch nicht weiter schlimm ist, denn  zufälligerweise (und jetzt aufgepasst!) stürzt unweit ein Flugzeug ab! Alle Insassen sind tot und da die Kanzel praktischerweise nach unten abgebrochen ist, braucht man sich nicht weiter darum zu kümmern. Stattdessen besteigt man den aufgebrochenen Rumpf der Maschine, um sich häuslich einzurichten und erfreut sich an den zahlreich vorhandenen Lebensmitteln. Sogleich wird auch ein wärmendes Feuerchen entfacht (in einem gerade abgestürzten Flugzeug!). Spätestens an dieser Stelle wollte ich entnervt aufgeben, aber die letzten 70 Seiten wollte ich aus reiner Neugier dann doch noch hinter mich bringen (der geneigte Leser mag erkennen, dass eine gewisse Grundspannung zweifellos vorhanden ist).
 
Karl Hemeyers Roman ist eine Familiengeschichte vor historischem Hintergrund, welcher leider in vielen Belangen viel zu kurz umrissen, ja nur angedeutet ist. Die Geschichte selbst wirkt in großen Teilen regelrecht zusammengeschraubt sowie ausgesprochen farblos erzählt. Man geht beispielsweise (viel zu oft) ins "Engelhardt", wo dann "bestellt und serviert, gegessen und getrunken" wird. Man geht nach Hause, schläft, wacht auf, frühstückt in der Pension, macht ein paar Fotos im Stadion und geht wieder ins Engelhardt, wo man dann wieder etwas trinkt, isst und dann nach Hause geht. Selbst das erste Zusammentreffen mit Leni Riefenstahl gestaltet sich haarsträubend unspektakulär und wird auf einer einzigen Seite regelrecht abgehandelt. Man wird durch Herrn Nannen bekannt gemacht, es folgt etwas (naiver) Smalltalk, man erfährt, dass Herr Nannen gut drauf ist, aber auch sehr durstig, dass man sich prächtig amüsiert, wiedermal trinkt und isst und sich dann schon wieder verabschiedet. Es tut mir leid, aber eine solche "Dramaturgie" ist ärgerlich.

Selbst größere Konflikte werden einfach glattgebügelt. Man ist sofort auf 180, beruhigt sich aber ebenso schnell wieder. Der Streit mit dem Vater ist schnell geregelt und die weitere Zukunft in sichere Bahnen gelenkt. Wenn aber nach dem Aufenthalt in Berlin wieder alles kippt, wird dies von allen Beteiligten noch schneller akzeptiert.
Gradezu lächerlich wirken hölzern beschriebene Liebesszenen, wobei der Autor hier noch einen draufsetzt und gar amtlich formuliert: "Dann küssen sie sich innig und verschlingen sich in einer von tiefer Zuneigung und Vertrauen geprägten Umarmung." An anderer Stelle besticht eine nähere Beschreibung des Liebesaktes ebenfalls durch unfreiwillige Komik. Man fällt nämlich nicht nur "voller Innigkeit", sondern auch noch "mit einer ziemlichen Heftigkeit" übereinander her. Dann folgt eine Nachhilfestunde in Sachen Anatomie, denn David stößt seinen Unterleib, selbstverständlich "mit dosierter Gewalt", in Ernas Becken. Die Gute versinkt alsdann in "lang anhaltende Wonneschauer" und für beide war "nach diesem heftigen Spiel" klar, dass es "die Liebesnacht ihres Lebens war".

Also, die Lesenacht meines Lebens war es jedenfalls nicht, da die Story insgesamt zu simpel gestrickt ist. Ein Fazit fällt mir insofern schwer, da "Olympia 1936", zumindest in meinem Fall, keine bleibenden Eindrücke hinterlassen wird. Ich will nicht sagen, dass die Geschichte der Gebrüder Stern etwa schlecht oder unspannend sei. Dies und jenes kann sich zu jener Zeit so oder so in vielen Familen tatsächlich abgespielt haben. Und nichts gegen eine ordentliche Portion Fiktion. Man sollte Geschichten aber nicht abspulen, sondern erzählen ...

 

Thomas Lawall - Januar 2011
 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum