Literatur

Nimm meinen Schmerz

von Katerina Gordeeva


350 Seiten
© 2023 Droemer Verlag
www.droemer-knaur.de
ISBN 978-3-426-27917-5



Selten ist mir die Rezension eines Buches so schwer gefallen wie diese hier. Wie oft habe ich angefangen und rein gar nichts zu Papier gebracht. Die auf den schmalen Zettel wie immer notierten Zeilen ergaben einfach keinen Anfang und kein Ende, wohl analog zu den nicht enden wollenden Kriegen auf diesem blauen Planeten.

In den Nachrichten hören und sehen wir täglich Berichte von irgendwelchen Eroberungen, Landgewinnen und Opfern, die nicht selten ein recht diffuses Licht auf das wahre Ausmaß jener kriegerischen Auseinandersetzungen werfen. Jene Opfer, welche sog. Staatsoberhäupter als "Verluste" scheinbar von vornherein eingeplant haben, verschwinden hinter der nüchternen Aufzählung diffuser Zahlenberge und werden nicht Wenigen gar zu viel, denn "man kann es ja schon fast nicht mehr hören"...

Ganz andere Wege geht Katerina Gordeeva, die russische TV-Reporterin und Kriegsberichterstatterin, welche nach der Annexion der Krim 2014 ihre Heimat verließ und nunmehr im Exil in Lettland lebt. "Nimm meinen Schmerz", der nüchterne Buchtitel, verrät kaum etwas über den Inhalt jener "Geschichten aus dem Krieg". Erst jene Zeile, die dem Vorwort vorangeht, und wie eine Warnung klingt, lässt nichts Gutes ahnen.

Die Autorin stellt uns Menschen vor, die sie ihre "Heldinnen und Helden" nennt, welche den Krieg in der Ukraine unmittelbar erlebt haben. Ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten gleichermaßen wie desertierte russische Soldaten, die mehr oder weniger alle etwas gemeinsam haben: Sie alle wollten diese "militärische Spezialoperation" nicht. Die einen hat man überfallen, die anderen am 24. Februar 2022 zu einer "Übung" an die ukrainische Grenze geschickt.

Leserinnen und Leser erleben diesen Krieg in Zeitlupe und in Episoden, die in Nachrichten selten oder nie zu sehen sind. Katerina Gordeevas Fokus liegt auf den Einzelschicksalen ihrer Heldinnen und Helden. Das gelingt nicht immer, da sie als gebürtige Russin keinen leichten Stand hat, aber wenn es gelingt, ist es furchtbar.

Wir lernen Irina kennen, die insgesamt 25.000km unterwegs war, um ihren Sohn zu suchen, einen Mann, der Frauen und Kinder mitten im Gefecht mit seinem Auto in Sicherheit bringt und noch einmal in die "Hölle" zurückfährt, Menschen, die sich einen "Zaubermantel wie bei Harry Potter" wünschen, oder jenen Opa, der in jungen Jahren bei einem Hausbau einen "Erschießungsgraben" fand.

Flüchtlingsfamilien in ihrer "neuen Heimat" begleiten wir ebenfalls, und was es bedeuten kann, am schönsten Platz der Welt aufgenommen worden zu sein. Und wir lernen, was pure Verzweiflung ist, wenn die Menschen einfach nicht begreifen können, was sie verbrochen haben, was man von ihnen will oder von wem oder was man sie "befreien" will.
 
"Was habt ihr nur angerichtet...
Wir haben doch nur dieses eine Leben."

Katerina Gordeevas "Geschichten" zeigen auf fast unerträgliche Weise das wahre Gesicht des Krieges, der größtmöglichen aller Katastrophen. Reduziert auf entsetzliche Einzelschicksale multipliziert dieses Buch die gewohnte Berichterstattung weit über das gegebene Maß hinaus.

Es gibt deshalb unendlich viele Fragen, die aber ausnahmslos nicht beantwortet werden können. So wird auch "Irynas" Frage unbeantwortet bleiben:

"Was hat man ihnen eingeflößt, was ist in ihnen zerbrochen, dass sie ganz normale Menschen so hassen?"

 

Thomas Lawall - Dezember 2023

 

 

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