Literatur

Nestis und die verschwundene Seepocke

von Petra Hartmann


152 Seiten
© 2013 by Verlag Monika Fuchs - Hildesheim
www.verlag-monikafuchs.de
www.petrahartmann.de
www.otto-fradina.de
ISBN 978-3-940078-64-3



Umgeben von großen Romantragödien, lustigen Unterhaltungsbestsellern, schaurigen Kriminalfällen, kopflastigen Lyrikgesamtausgaben und unzähligen Sachthemen, welche sich mit Ackerbau und Viehzucht, Kochen, Haus- und Wohnungsausbau etc. bis zu drohenden Umweltkatastrophen und allerlei Theorien vom Ursprung und den Grenzen des Weltalls und darüber hinaus beschäftigen, bewegt sich unser Aufnahmevermögen nicht selten an ebensolchen Grenzen.

Überlastung macht sich im angebotenen Literaturzirkus breit - der große Bücher-GAU steht bevor und nicht wenige Bücherwürmer leiden bereits unter akutem Literatur-Burnout. Dabei sind die wichtigsten Themen noch gar nicht in Erscheinung getreten. Die wahren Probleme werden verheimlicht oder schlicht ignoriert. Die Interessen Einzelner gehen gar völlig unter. Und wenn es sich dann auch noch um eine Meerprinzessin handelt, sowieso. Dabei ist es wirklich ein böses Drama, wenn eine Seepocke einfach so verschwindet ...

Nichts kann schlimmer sein, als einem hungrigen Hai in die Quere zu kommen. Fast jedenfalls, denn wenn es gleich drei sind, scheint die Lage aussichtslos zu sein. Nicht aber für Nestis, das Meermädchen. Sie hat weder Angst noch Respekt vor den großen Meeresräubern, auch wenn sie noch so viele Zahnreihen besitzen. Leider sind sie ziemlich angriffslustig und umzingeln Nestis und ihre Freunde, die sich auf dem Weg zur Befreiung der kleinen Undine befinden. Sie wurde von Menschen gefangen und wird in einer "Monster-Schau" ausgestellt.

Schon deshalb hat Nestis für den unerwarteten Zwischenstop keinerlei Verständnis. Die Haie scheinen zudem ziemlich blöd zu sein, denn sie drohen alle mit dem gleichen Text. Nestis kontert vorlaut mit der Frage, ob sie sich wohl "ein Gehirn teilen" würden! Ein derart "freches Mittagessen" haben die Haie noch nicht erlebt, während sie schon die nächste Breitseite einstecken müssen. Dass sie "so dumm wie ein Eimer Hafenschlick" sein sollen, traute sich aber bisher noch niemand zu sagen. Sie greifen an ...

Auch aus der Flut von Kinderbüchern muss man sich retten ... indem man einfach die Rosinen herauspickt. Selbige gibt es bespielsweise im Verlag Monika Fuchs, und mit "Nestis und die verschwundene Seepocke" legt der Hildesheimer Verlag ein weiteres Beispiel vor, wie man gehaltvolle Geschichten für Kinder (und solche, die es geblieben sind) mit guter alter Buchdruckerkunst verbindet.

Es macht sehr viel Spaß, sich mit dem gebotenen Detailreichtum, den Petra Hartmann in ihrer Unterwasserwelt entwirft, zu beschäftigen. Man kann die Geschichte rund um die verschwundene Schwester von Nestis mit allen Sinnen erfassen. Man hört, sieht und spürt den Wellengang, erschreckt und zittert mit, wenn sich Seltsames in jenem Piratenschiff zuträgt, ja man schmeckt sogar jene Flüssigkeit in der Nähe eines gesunkenen Frachters, die nach "fauler Seegurke mit Lebertran" schmeckt, und wiedermal so ein "Menschenkram" ist.

Einen gewissen Anspruch hegt die Autorin, indem sie mit zahlreichen Verweisen auf das von Menschenhand verursachte Müllproblem hinweist. In diesem Zusammenhang ist allerdings das monumentale Ende der Story ebenfalls ganz und gar nicht umweltfreundlich, was durchaus als Widerspruch zu deuten wäre. Dies mag man aber der bezaubernden Nestis verzeihen, denn Kinder und Jugendliche vergessen gerne ihre heranwachsenden Prinzipien, wenn sie in eigener Sache unterwegs sind. Etwas riskant war es aber schon, und bitte liebe Kinder, macht so etwas bloß nicht nach!

Zum Ende, welches im Zusammenspiel mit einer ganzen Reihe von liebenswerten Ideen und drolligen Beschreibungen vielleicht eine Sonderstellung im Kinderbuchsektor bildet, darf an dieser Stelle natürlich nichts Konkretes verraten werden. Andere Details dann schon eher. Herrlich beispielsweise die Idee des Meerkönigs, Nestis Vater, mithilfe von "Elektrofischen aus Südamerika" ein "Elektrizitätswerk" bauen zu wollen. Auch die Konstruktion einer Glasflasche mit Phosphoralgen gefällt mir sehr gut - ich möchte auch so eine Taschenlampe haben!

Wehe wenn Nestis wütend ist und an Tempo zulegt "wie ein Thunfisch, der von einem Pizzabäcker verfolgt wird". Es gibt aber noch eine Steigerung, nämlich das "doppelte Thunfischtempo". Und wenn sie droht zu zeigen, "wie man einen Liter Blut durch die Nase spendet", sollte man schleunigst das Weite suchen. Es sei denn, man heißt "Kurzschluss" und ist ein Zitteraal ...

Nachdem Nestis ihren schützenden Lebensraum verlässt, weht der Wind zusehends rauher. Und wenn es zum Schluss aussichtslos erscheint, brennt Petra Hartmann ein Feuerwerk ab, das im Prinzip den finalen Dimensionen eines amerikanischen Action-Krachers nahe kommt. Arnold Schwarzenegger oder Bruce Willis hätten womöglich das Gleiche getan, denn eine andere Lösung wäre, auch im Hinblick auf einen gewissen Zeitdruck, schlicht nicht denkbar gewesen.

Alles in allem ist "Nestis und die verschwundene Seepocke" ein ebenso bezauberndes wie aufregendes Kinderbuch, kongenial bereichert durch die Illustrationen von Olena Otto-Fradina, welche der Geschichte zusätzlichen Tiefgang verleihen. Ich glaube und hoffe nicht, dass diese traumhafte Zusammenarbeit die letzte sein wird. Es kann einfach nicht sein, dass dies das letzte Abenteuer der jungen Nestis ist. Da lachen ja sämtliche Riesenkraken: Hohoho ...

 

Thomas Lawall - Dezember 2013

 

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum