Literatur

Nebenan

von Kristine Bilkau


288 Seiten
© Luchterhand Literaturverlag, München
www.luchterhand-literaturverlag.de
ISBN 978-3-630-87519-4



Vielleicht sollte man eine Rezension einmal völlig anders aufbauen. Weniger mit dem Fokus auf das Innenleben des Buches, sondern auf seine Wirkung. Es gibt zu viele Geschichten, die schnell erzählt, aber genauso rasch wieder vergessen sind. Ganz anders bei "Nebenan". Man scheint sie zu kennen, denn sie spielen sich so oder anders in der eigenen, unmittelbaren Nachbarschaft ab.

Einen Namen hat die Stadt, um die es hier geht, nicht. Braucht sie auch nicht, denn diese Beobachtungen sind mühelos übertragbar auf jeden beliebigen Ort. Wie ist das mit diesem schon länger leer stehenden Haus in jener Straße, in der wir selbst wohnen. Was ist mit jener Familie geschehen? Gestorben sind sie nicht. Man hätte davon doch etwas gehört. Oder etwa nicht?

Was weiß und wusste man überhaupt über sie? Umgekehrt wird es genauso sein. Was ist über uns bekannt, was über die beiläufigen Gespräche, in den Straßen oder vor der Haustür, hinausgeht? Die Läden, einst auch Stätten der Begegnungen, werden immer weniger. Sie sterben mit den Menschen, die einst auf sie angewiesen waren.

Auch diese seltsame, offenbar alleine lebende Frau in dem alten Haus bei uns gegenüber kommt mir zwangsläufig wieder in den Sinn. Unnahbar wirkend, leicht abwesend und vielleicht in einer anderen Welt lebend, änderte sich das Bild von ihr, als durch Zufall ein Gespräch entstand. Aber der mehr oder weniger deutliche Hilferuf einer Seele, die sich der Verzweiflung nähert, verhallte im Sumpf der Ratlosigkeit. Vor der eigenen Haustür gibt es schließlich genug zu kehren.

Wie nahe sich doch Wirklichkeit und Fiktion stehen: "Nebenan" erzählt von einer verschwundenen Familie und dem leerstehenden Haus, das sie hinterlassen haben, um welches sich jetzt Geschichten ranken wie außer Kontrolle geratene Kletterpflanzen. Von der über sechzigjährigen, alteingesessenen Ärztin Astrid, die, scheinbar gefestigt und doch durch den Verlust einer Freundschaft leidend, geradewegs in eine Krise steuert. Von jenem zugezogenen Paar aus Hamburg, Julia und Chris, sie Keramikerin, er Biologe, die sich den dringenden Wunsch nach einem eigenen Kind bisher nicht erfüllen konnten. Oder von jener Marli, die nach langer Zeit plötzlich wieder auftaucht. Von Knatsch und Tratsch sowieso. Von Fragen, die nur von dem eigenen Dilemma ablenken.

Das Leben in dieser Stadt am Nord-Ostsee-Kanal ist so, wie das Leben überall ist. Eine Kunst ist es, das so zu erzählen. Die unglaubliche Präzision der Beobachtungen erzeugen eine altbekannte Vertrautheit, die bisher nur diffus in der Wirklichkeit schwebte, jetzt aber klar zu erkennen und zu definieren ist. Unklares wird zumindest begreifbarer, was gleichzeitig nicht immer bedeutet, alles verstehen zu können. Beispielsweise die "Achtlosigkeit zwischen Erwachsenen".

"... Es sind eigentlich fast immer die Kleinigkeiten, an denen das Traurige sich festmacht..."

Eine ebenso "solide" wie geradlinige Story mit "Hand und Fuß" darf also keinesfalls erwartet werden. Und das ist gut so, denn das Leben hat mehr zu bieten. Diese Momentaufnahmen sind wie Puzzleteile eines Bildes, das niemals fertig werden wird. Wir alle werden geboren, leben mitten darin und müssen dereinst gehen, ohne das Gesamtwerk je betrachtet zu haben.

Dazwischen sind wir auf der Suche nach einem Platz, wo wir hingehören, nach etwas Vertrautem und Menschen, denen wir uns zugehörig fühlen, vielleicht auch einer allgemeinen Akzeptanz, die sich aber im ständigen Widerspruch mit dem Wunsch nach Rückzug auf private Inseln befindet. Wohin sollte man sich vor Klatsch und Mutmaßungen sonst retten?

Alles wirkt so, wie das Leben in unser Straße. Dort, wo man abends immer das blaue Licht eines Fernsehers flackern sieht. Dort, wo viele schon seit Jahrzehnten leben, sich trennten, krank wurden oder starben. Das alles geht viel zu schnell und

"... diese gemeinsam durchlebten Kapitel lassen das, was noch kommen kann, so vorgezeichnet wirken."

 

Thomas Lawall - Juni 2022

 

 

Für Fragen, Kritik und Anregungen steht unser Forum zur Verfügung

Home News Literatur Gedichte Kunst Philosophie Schräg Musik Film Garten Küche Gästebuch Forum Links Impressum