Literatur

Nebelkinder


von Stefanie Gregg


380 Seiten
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2020
www.aufbau-verlag.de
ISBN 978-3-7466-3592-7



Dass die Geschichte im Februar 1945 beginnt, begreift man in seiner ganzen Dimension zunächst nicht. Nach der Flucht aus Breslau erhalten zwei Familien Quartier im Kuhstall eines Bauernhofs in der Nähe von München. Erst als man sie mit Lastwagen abholt, um sie mit vielen anderen Flüchtlingen in jeweils zugeteilte Wohnungen nach München zu bringen, wird einem in letzter Konsequenz klar, in welch düsterer Zeit man sich befindet.

Die dreizehnjährige Anastasia hatte schon flüchtig von der großen Stadt im Süden gehört. Auch sie sei zerstört worden, sagt man. Und so läuft es einem kalt über den Rücken angesichts dieser einfühlsamen und doch harten Regiearbeit Stefanie Greggs, welche eine erste Ahnung entstehen lässt, was sie mit diesem Roman möglicherweise erreichen oder zumindest ausdrücken will. Der gewaltige Zeitsprung im zweiten Kapitel, der uns ins München von 2017 katapultiert, unterstreicht dies eindrucksvoll. Jetzt lernen wir Lilith, Anas Tochter, kennen!

Viel Zeit zum Nachdenken bleibt Leserinnen und Lesern jedoch vorerst nicht, denn nun wird die Bühne für die Neununddreißigjährige, die nun in ihrer eigenen Welt und Problematik lebt, geöffnet. Als "Nebelkind" blieb ihr bisher die Zeit, in der ihre Mutter oder gar Oma Käthe aufgewachsen sind, in diffusem Licht verborgen. Geschichtliche Fakten sind etwas anderes als private Befindlichkeiten, und darüber redet man schon gar nicht. Jedenfalls nicht bis jener Robert und sein dreizehnjähriger Sohn Aaron auftauchen ...

Es ist insofern eine ungünstige Voraussetzung, wenn sich der Rezensent unlängst mit Anne Enrights neustem Familienepos, einem grandiosen Mutter-Tochter-Konflikt, beschäftigt hat, dessen wortgewaltige Sprachbilder noch immer nachwirken, und er nun erkennen muss, dass selbige hier nahezu gänzlich fehlen. Falsche Erwartungen sind einfach ein Kreuz.

Stefanie Greggs generationenübergreifende Familiengeschichte beinhaltet genannten Konflikt ebenfalls, jedoch auf verschiedenen Zeitebenen, die unterschiedlicher nicht sein können. Vor der Kulisse des zweiten Weltkriegs richtet sie den Fokus auf Einzelschicksale und beleuchtet damit gleichzeitig das Schicksal einer ganzen Generation.

Mitunter trübt ein plötzlich farblos wirkender Schreibstil das Erleben der Geschichte, die wohl keinesfalls am Stück heruntergeschrieben wurde, weshalb sich womöglich Tagesbefindlichkeiten eingeschlichen haben, vielleicht auch so etwas wie ein Mitleiden mit den Figuren. Kitschig sollte es jedoch nicht werden, wird es aber, wenn "überbordende Gefühle aufwallen", eine Traurigkeit "dampft", oder wenn sich "Verblüffung, Entsetzen, und Verwunderung" in eine Stimme "mischen". Peinlich auch der Vergleich eines Volkswagens mit einer "runden Kugel".

Dem gegenüber stehen grandiose Bilder wie jenes der jungen Lilith, wie sie zur "Sammlerin der Augenblicke" wurde. Doch auch das genaue Gegenteil spart Stefanie Gregg nicht aus. Der Krieg und seine grauenhaften Folgen spiegeln sich im Einmarsch sowjetischer Truppen in Breslau wieder sowie in den heute unvorstellbaren Zuständen in den Flüchtlingszügen. Was heute weit über die Grenze des Erträglichen hinausgeht, war vor gar nicht allzu langer Zeit Realität. Wenn man als Frau nur das Lachen statt den Verstand verlor, war man noch auf der "besseren" Seite.

"Nebelkinder" verlangt erhöhte Aufmerksamkeit, denn die Autorin hat eine Vielzahl von Zeitsprüngen eingebaut. Wir lernen also Lilith, ihre Mutter Anastasia und Liliths Oma Käthe auf ihren jeweiligen Zeitebenen kennen. Schade, dass sich Elemente der seichten Familienoper eingeschlichen haben. Frisch verliebt "wagt man kaum zu atmen" und Affären gehören natürlich auch dazu: "Gab es in deinem Leben einen anderen Mann"?

Auch die superromantische, aber unmögliche Liebe darf nicht fehlen. Aber was macht das schon, wenn man das unsichere Terrain eines begnadeten Geisteswissenschaftlers gegen einen sicheren Ankerplatz im Hafen der Betriebswirtschaftslehre eintauschen kann. Hauptsache man erlebt die großen Momente einer Mutter, die "mit nichts aufzuwiegen" sind. "Ein Kind großzuziehen, glücklich zu machen, das ist alles was zählt." Nun denn.

Man mag zum Ende und der sich aufdrängenden "Moral von der Geschicht" grundverschiedene Ansichten haben, doch mit der finalen Entscheidung Liliths findet die Geschichte ihr logisches Ende - sie läuft sozusagen rund.

Neben all dem gerüttelt Maß an überflüssiger Rührseligkeit ist Stefanie Greggs Appell unüberhörbar, Sprachlosigkeit zu durchbrechen und das Nichtgesagte zu enthüllen. Wenigstens in kleinem Rahmen vielleicht. Unsagbar traurig, wenn Wahrheit dazu verdammt ist, in Gräbern zu verrotten. Ob dieser Roman etwas Licht ins Dunkel bringt, die Generationen zu einer Annäherung veranlassen könnte, so wie sie es in ihrem ausführlichen Nachwort schildert, bleibt offen. Wenn ja, wäre viel erreicht.

 

Thomas Lawall - Oktober 2020

 

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