Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
von Saša Stanišić
256 Seiten © 2024 Luchterhand Literaturverlag www.luchterhand-literaturverlag.de ISBN 978-3-630-87768-6
Damit das gleich abgehakt ist, hier ein Hinweis für alle, die sich fragen, was ein derart langer Buchtitel zu bedeuten hat. Einfach im Inhaltsverzeichnis nachschauen, wie die Geschichte, die auf Seite 155 beginnt, heißt. Doch halt. Nicht gleich lesen, denn der Autor richtet zu Beginn einen Wunsch an alle Leserinnen und Leser: "Bitte der Reihe nach lesen". Jaja, im Allgemeinen machen wir das bei jedem Buch so, aber er möchte halt einfach sichergehen.
Man könnte meinen, es handelt sich um eine Sammlung von Kurzgeschichten, was sich allerdings irgendwann beginnt, zu relativieren. Offenbar ist es doch so eine Art Roman, jedoch mit anderen Vorzeichen. Erfreulich anderen Vorzeichen. Eher ganz anderen, zumindest was die saloppe Sprachwahl betrifft. Aber nicht nur die.
Saša Stanišić pflegt eine extrem originelle Art, sich auszudrücken, formuliert irgendwie vorlaut, frech, sehr differenziert, witzig, immer geistreich, teilweise etwas abstrahiert und mitunter paradox. Wie auch immer, seine Personenbeschreibungen kommen erfreulich schräg. Die von Schornsteinfeger und Reichsbürger Siggi zum Beispiel. Das ist der mit dem vorne kurzen und hinten langen Haar:
"Das sah irgendwie aus, als hätte das Haar etwas zu Hause vergessen und käme beim besten Willen nicht drauf, was es war."
Es wird absolut "arschgetreu", "basisromantisch" und "vogelschwarmgemustert", also nach Herzenslust, "herumgeäußert", "geklemmbausteint" und "wegassoziiert", dass es eine wahre Freude ist! Es kann aber auch "volle Möhre anstrengend" sein. Mit erheblichem Erkenntnisgewinn ist übrigens ebenfalls zu rechnen:
"Spazieren ist nirgendwo hingehen."
Aber um was es eigentlich genau und in weiteren Details geht, dürfte hinlänglich bekannt sein, da dem Rezensenten die nunmehr dritte Auflage vorliegt. Wer aber noch nie etwas von diesem Buch gehört hat, sollte das allerdings schleunigst ändern.
Es handelt sich (Titel wird jetzt nicht wiederholt) so in etwa um einen Science-Fiction-Kurzgeschichten-Roman, der vordergründig die Geschichte einiger, aber doch eher weniger Menschen erzählt, die sich allesamt viele Gedanken über das Leben machen, den eigenen Werdegang, den Stand der Dinge und das, was noch möglich ist oder vielleicht irgendwann sein könnte.
Ganz prima, wenn es eine Möglichkeit gäbe, dies einmal auszuprobieren und bei Gefallen in diese Lebensmöglichkeit "einloggen" zu können. Ein derartiges Gedankenspiel kann sich ausgesprochen dramatisch oder auch sehr komisch gestalten. Wie komisch, verrate ich nicht. Nur so viel: Nicht selten muss bei gewissen Formulierungen der Rückwärtsgang eingelegt und/oder um die Ecke gedacht werden, bis der Groschen fällt.
Das kann leicht passieren, wenn die Science-Fiction-Kurzgeschichten-Roman-Figur auf Seite 97 (Titel auch so lang) plötzlich beginnt, aus dem gegebenen Rahmen herauszutreten und allerhand Anmerkungen in Richtung seines Schöpfers, also dem Autor, loszulassen. Das verwirrt auf sehr angenehme Weise.
So wie das ganze Buch. Am Ende ist man zwar genauso schlau wie vorher, aber viel schlauer. Fazit: Leute, so geht Lesen heute.
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